Tobias Grambow, Rechts- und Fachanwalt für Arbeitsrecht sowie Hochschuldozent an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin, ein Mann mitten aus der Praxis, bekennt sich zu der Societas Europaea als Weg aus der starren Mitbestimmung in Deutschland. So schrieb er in „Der Mittelstand“ einen Beitrag zu dem Thema mit dem Titel: „Hoffnungschimmer gegen starre Mitbestimmung: Societas Europaea“. Was als pure Freude für alle Arbeitgebervertreter erscheint, könnte zum Alptraum aller gewerkschaftlichen Verbände mutieren. Doch ist es wirklich so einfach aus der Mitbestimmung in Deutschland herauszukommen bzw. davor zu flüchten wie einige es nennen? Und ist dieser bejubelte „Hoffnungsschimmer“, namens SE in der Realität tatsächlich schon angekommen?

Societas Europaea

Die europäische Antwort auf die nationalen Gesellschaftsformen heißt, Societas Europaea (SE).

Die SE ist ein Europäische Aktiengesellschaft. Sie ist in allen EU Mitgliedsstaaten seit 2004 gründbar und wird in das jeweilige nationale Handelsregister eingetragen. Eine bisher nationale Rechtsform kann zum Beipiel unter gewissen Voraussetzungen in eine SE umgewandelt werden. Besonders macht die SE, dass Arbeitnehmer noch vor der Gründung der SE durch ein Verhandlungsverfahren über ihre Beteiligungsrechte eingebunden werden. Dieses Vorgehen ist für dem Deutschen Gesetzgeber vollkommen fremd und vielleicht macht sie gerade dieses zum besonderen Exoten.

Unternehmensmitbestimmung in Deutschland

Um das Thema Mitbestimmung in einer SE zu verstehen, muss man sich die Mitbestimmung in Deutschland ansehen. Die Unternehmensmitbestimmung findet im Aufsichtsrat einer Gesellschaft statt. Arbeitnehmer haben Zugang zu diesem durch zwei entscheidende Gesetze, dem Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG) sowie das Mitbestimmungsgesetz (MitbestG). Sobald mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigt sind, ist der Aufsichtsrat mit 1/3 AN-Vetreter zu besetzen. Bei mehr als 2000 Arbeitnehmern müssen 50% (paritätisch) der vorhandenen Sitze mit Arbeitnehmer-Vertertern besetzt sein.

Mitbestimmungspflicht in Deutschland als zahnloser Tiger?

Zur richtigen Besetzung des Aufsichtsrats in Deutschland, dient die Statusfeststellung.. Dieses Verfahren kann friedlich (§97AktG) als auch unfriedlich (§98AktG) durch gerichtliche Feststellung erfolgen. Das Kontinuitätsprinzip (§ 96 IV AktG) besagt aber, dass der alte Aufsichtsrat weiter gilt, solange keine Statusfeststellung erfolgt ist, selbst wenn die Schwellenwerte bereits lange überschritten sind. Sehr zur Freude betroffener Unternehmen. Denn dies führt nach einer Studie dazu, dass von 444 DrittelbG-pflichtigen GmbHs, 247 ohne Mitbestimmung im AR existieren. Das BVerfG deckt in einem Urteil  diesen offensichtlichen Verstoß, indem sie sagen, dass die Pflicht zur Mitbestimmung ab mehr als 500 Arbeitnehmer bestehe, diese aber nicht per Zwang durchsetzbar ist. Dies könnte daraufhin deuten, dass allein schon die deutschen Rechtsformen genügend Schutz vor der Mitbestimmung bieten und eine Flucht garnicht nötig wäre. Jedoch besteht ein großes Risiko für deutsche Gesellschaften, was das BVerfG ebenso betont. Die Antragsberechtigten nach § 98 Absatz 2 AktG können jederzeit das Statusverfahren ins Leben rufen. Die deutsche Vermeidungsstrategie basiert daher nicht auf Rechtssicherheit und Planbarkeit für die Unternehmen.

Besonderes Verhandlungsgremium

Im Gegensatz zu den deutschen Mitbestimmungsgesetzen, setzt die SE zuvorderst auf die Verhandlungslösung. Das besondere Verhandlungsgremium (bVG) ist dabei Schlüssel zum Mitbestimmung für die Arbeitnehmer. Es dient als Werkzeug um mit den Anteilseignern über Beteiligungsrechte zu verhandeln, die beständig gelten. Dies sind die eher schwachen Rechte wie Anhörung und Unterrichtung, aber auch echte Mitbestimmungsrechte durch AR-Sitze. Grundsätzlich sind alle von der SE Maßnahme betroffenen Unternehmen in diesem bVG zu integrieren. Je angefange 10% der Gesamtbelegschaft sollen einen Sitz im bVG haben, sodass mindestens 10 Arbeitnehmervertreter an die Verhandlungsfront gehen. Zeitlich stehen nun 6 Monate bis 1 Jahr zur Verfügung und es können drei Ergebnisse dabei herauskommen.

Verhandlungsergebnisse des bVG

Die erste wohl friedlichste Variante zum Ausgang der Verhandlungen ist eine Einigung. Es wird eine gemeinsame Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer getroffen. Die zweite Möglichkeit ist ein Abbruch oder Nichtaufnahme der Verhandlungen seitens des bVG. Dieser Schritt erscheint eher als Unklug, da es nur zur nationalen Lösung über die Beteiligungsrechte der Anhörung und Unterrichtung führt.  Die dritte Variante, die Nichteinigung, gilt daher als deutlich erstrebenswerter. Sie stellt die gesetzliche Auffangregelung dar. Es wird mindestens ein SE-Betriebsrat kraft Gesetz gebildet. Darüber hinaus findet das Vorher-Nachher-Prinzip Anwendung. Sollte in der „alten Rechtsform“ Mitbestimmung existiert haben, gilt diese im Mindestmaß auch in der SE. Damit scheint ja alles gut zu sein, oder?

Das wäre zumindest so, wenn es das erwähnte Kontinuitätsprinzip nicht gebe. Denn das sorgt dafür, dass die Vorher-Nachher-Regelung an Kraft verliert. Eigentlich hätte Mitbestimmung (>500 AN) bestanden, aber da es keinen Zwang zur Umsetzung gibt, kann sich auch hier die Auffangregelung nur auf den „falschen“ Status quo berufen. Im Übrigen sei zu erwähnen, dass eine Statusfeststellung als SE nicht möglich ist. Das bVG könnte natürlich versuchen ein Statusverfahren noch anzustreben, doch ob die Zeit (6Monate-1Jahr) dafür ausreicht, erscheint als fraglich. Ebenso ist es sehr wahrscheinlich, dass das Ergebnis aus Einigung, Abbruch/Nichtaufnahme, Nichteinigung für immer gilt, von ein paar kleinen Ausnahmen abgesehen. Im Unterschied zur Vermeidungsstrategie durch die deutsche Rechtsform, erwirkt man mit der SE daher beständige Rechtssicherheit.

Mitbestimmungsvermeidung durch eine SE in der Praxis

Das Vorher-Nachher-Prinzip führt also dazu, dass bei einer Umwandlung bestehende Mitbestimmungsregeln mindestens auf dem Niveau bestehen bleiben. Bei Umwandlungen großer Unternehmen wie MAN, Allianz oder bei BASF führte die SE-Gründung daher nicht zur Absenkung von Mitbestimmungsstandards.

Die Mitbestimmungsvermeidung vor Erreichen der Schwellenwerte ist dagegen ein sehr häufiges Phänomen. Einige Unternehmen, wie bei einem aktuellen Fall der MLP, stehen in aller Öffentlichkeit dazu, dass es bei der Umwandlung rein um die Verhinderung größerer Mitbestimmung geht.

Keine direkte Aussagen bezügliches der Umwandlungsgründe treffen die in 2016 gewandelten windeln.de-SE oder Nemetschek-SE. Sehr auffällig sind jedoch die Zahlen der angestellten Arbeitnehmer, welche knapp 500 betragen und die Unternehmen somit kurz vor der Anwendung des DrittelbG stehen würden. Die geschlossenen Vereinbarungen schaffen auf betrieblicher Ebene einen SE-Betriebsrat, schließen jedoch jegliche Beteiligung von Arbeitnehmern im Aufsichtsrat für die Zukunft aus.

Einen sehr interessanten Rechtsstreit über die Wirksamkeit einer Mitbestimmungsvereinbarung führen derzeit die Zalando SE und die vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di). Die Zalando SE hat einen Aufsichtsrat nach DrittelbG, obwohl sie bei der Umwandlung weit mehr als 2000 Arbeitnehmer hatte und so eigentlich paritätisch mitbestimmt sein hätte müssen. Ferner würde der Gewerkschaft ein Platz im Aufsichtsrat nach DrittelbG zustehen, Die abgeschlossene Mitbestimmungsvereinbarung, zu welcher ver.di nicht beteiligt wurde, sieht dies jedoch nicht vor. Das Arbeitsgericht in Berlin hat die Klage der Gewerkschaft nun zurückgewiesen, da es keine Zuständigkeit in gesellschaftsrechtlichen Fragen sieht, nun müssen Zivilgerichte entscheiden. Eine Entscheidung über die Wirksamkeit steht somit noch aus.

Die SE als Vehikel zur Flucht aus der Mitbestimmung?

Die Ausgangsfragen lassen sich nicht so einfach beantworten. Fakt ist jedoch, dass man eine Art „vorauseilende Flucht“ einiger Unternehmen erkennen kann, wenn sie gewisse Schwellenwerte des DrittelbG oder MitbestimmungsG zu erreichen drohen, Die unternehmerische Mitbestimmung wird bei SE-Verhandlungen daher meistens umgangen bzw. eingefroren. Ein anderes Bild ergibt sich bei der betrieblichen Mitbestimmung, da bei SE-Umwandlungen sehr oft ein SE-Betriebsrat entsteht, wo vorher noch überhaupt keine Mitbestimmung auf dieser Ebene existierte.

Aktuell ist in Realität festzustellen, dass die SE kein Massenphänomen ist. Tatsächlich haben von 2574 existierenden SEs in der EU nur 416 einen Status „normale“-SE. Die Bezeichnung wird dann verwendet, wenn sie operativ tätig, mit mindestens 5 Arbeitnehmer sind. Deutschland hat allein 202 dieser „normalen“ Formen, wobei nur 50 eine Mitbestimmung im Aufsichtsrat haben. Die restlichen SEs sind oft nicht operativ tätig und werden als Vorrats-SEs genutzt.

Ausblick

Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) wird im Zusammenhang mit den deutschen Mitbestimmunsgesetzen mit Spannung erwartet. Ein Kleinstaktionär der TUI AG strengte mit einem Statusverfahren die Frage an, ob der Aufsichtsrat der TUI AG diskriminierend zusammengesetzt ist. Hintergrund ist, dass der Aufsichtsrat nach deutschen Mitbestimmungsgesetzen gewählt wurde. Die ausländische Beschäftige würden dadurch benachteiligt da sie kein passives wie aktives Wahlrecht hätten.

Falls der EuGH die deutschen Gesetzte für europarechtswidrig halten sollte, könnte auch die Unternehmensform der SE mehr an Bedeutung gewinnen, da die Unternehmen Rechtssicherheit in der Zusammensetzung ihrer Aufsichtsräte haben wollen. Die Entscheidung wird für Anfang Januar 2017 erwartet. Einen vertiefenden Blog-Beitrag findet man hier.

weiterführende Links zur Thematik:

Euro Betriebsrat (zahlreiche Studien und Aufsätze):
http://www.euro-betriebsrat.de/ebr/115.php
Europäische Kommission (Grundlegendes zur SE):
http://ec.europa.eu/internal_market/company/societas-europaea/index_de.htm
European Trade Union Institut (Statistiken rundum die SE):
http://ecdb.worker-participation.eu/
Hans-Böckler-Stiftung (Praxisblätter für Aufsichtsräte):
http://www.boeckler.de/34750.htm