Das Schweizer Finanzmarktrecht befindet sich derzeit wie kaum ein anderes Rechtsgebiet in Bewegung. Dabei werden die meisten konzeptionellen Veränderungen durch internationale Entwicklungen angestoßen. Besonders das Verhältnis der Schweiz zur EU als Drittstaat verursacht einen Interessenkonflikt. Einerseits besteht der Zwang zur ständigen Anpassung, da die EU den wichtigsten Außenmarkt für die Schweiz darstellt, auf der anderen Seite bangt die Schweiz um ihre „Unabhängigkeit“. So nutzt der Schweizer Gesetzgeber gerne seine „Freiheit“, um eigene Sonderkonzepte durchzusetzen. Eines dieser Sonderkonzepte ist das Prinzip der Selbstregulierung auf den Finanzmärkten. 

Ziehen sich Gegensätze tatsächlich an?

Selbstregulierung ist die freiwillige Normierung eines Bereichs durch private Organisationen, Interessengruppen oder Verbände. Die Regelungsadressaten entwerfen selbst eine Regulierung für ihre Branche. Die Regulierung wird durch Private ausgearbeitet, erlassen und überwacht. Anders die staatliche Regulierung, bei welcher mittels hoheitlicher Akte die Normen sowohl erlassen als auch durchgesetzt werden. Hier tritt der Staat zwar als Regulator auf, ist aber selbst nicht direkt von der Regelung betroffen. Während Selbstregulierung von innen heraus reguliert, wirkt staatliche Regulierung mehr von oben herab.

Es besteht ein deutlicher Gegensatz zwischen staatlicher Regulierung und Selbstregulierung, doch das Schweizer Finanzmarktrecht zeigt ein funktionierendes Zusammenspiel beider Regulierungsformen, welches sich seit Jahren bewährt.

Stellenwert der Selbstregulierung in der Schweiz

Rechtlich verankert findet sich die Selbstregulierung namentlich in Art. 27 des Finanzmarktinfrastrukturgesetzes (FinfraG), welches am 01. Januar 2016 in Kraft getreten ist. Der Artikel sieht unter anderem vor, dass der Handelsplatz selbst (z.B. eine Börse) eine Regulierungs- und Überwachungsorganisation gewährleistet. Überwacht wird das Ganze durch die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (FINMA). Doch im FinfraG wurde der Begriff Selbstregulierung nicht neu erfunden, sondern das Prinzip der Selbstregulierung wird weiter fortgeführt. So wurden durch das FinfraG die verstreuten Bestimmungen aus dem Börsengesetz (BEHG), Bankengesetz (BankG) und dem Nationalbankgesetz (NBG) in eine systematisch einheitliche Regelung zusammengeführt und die Grundgedanken der Gesetze weitgehend übernommen. So auch das Prinzip der Selbstregulierung, an dem die Schweiz trotz europarechtlich abweichender Tendenz weiter festhält.

Das Prinzip der Selbstregulierung findet sich noch in einem weiteren Schweizer Gesetz, dem Finanzmarktaufsichtsgesetz (FINMAG). Dieses regelt unter anderem die Aufgaben und Organisation der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht. Interessant ist in diesem Gesetz der Art. 7 FINMAG über die Regulierungsgrundsätze. Der Artikel beinhaltet, dass die Aufsichtsbehörde nur dann regulierend eingreifen soll, sofern dies im Hinblick auf die Aufsichtsziele nötig ist. Sofern für einen Eingriff keine Notwendigkeit besteht, soll der Selbstregulierung der nötige Freiraum gewährt werden. Die FINMA unterstützt die Selbstregulierung sogar soweit, dass bestimmte Selbstregulierungen als Mindeststandard anerkannt und durchgesetzt werden können. Diese Anerkennung erhöht insbesondere den Stellenwert der Selbstregulierungsnorm und verleiht dieser sowohl mehr Legitimität, Wirksamkeit als auch Glaubwürdigkeit. Die Regelungen werden hierdurch für die gesamte Branche allgemeinverbindlich und gelten nicht mehr nur für die Mitglieder der entsprechenden Selbstregulierungsorganisation.

Die hohe Relevanz der Selbstregulierung für das Schweizer Finanzmarktrecht spiegelt sich auch in folgenden Zahlen wieder: im Jahr 2013 gab es im Finanzmarktrecht neben 243 staatlichen Erlassen mit 2.252 Seiten insgesamt 191 Selbstregulierungserlasse mit 1.401 Seiten. Zwei ausgewählte Beispiele der zahlreichen Selbstregulierungsakte sind der Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance und die Richtlinie Corporate Governance.

Selbstregulierung an einer Börse – wie funktioniert das?

Einer der wichtigsten Schweizer Selbstregulatoren ist die größte Schweizer Börse Swiss Infrastructure and Exchange (SIX) AG, die mit einem Marktanteil von über 90% deutlich marktbeherrschend ist. Die SIX AG verwirklicht den in Art. 27 FinfraG verankerten gesetzlichen Auftrag als Handelsplatz eine angemessene Regulierungs- und Überwachungsorganisation zu gewährleisten. Zur Umsetzung dieses Ziels hat die SIX ein bestimmtes regulatorisches Konzept entwickelt.

Das Regulatory Board bildet als rechtsetzendes Organ die Legislative für Emittenten, Teilnehmer und Händler. Dieses erlässt Reglemente, um alle Aspekte des Handelns an der Börse zu ordnen. Weder im FinfraG noch im Börsengesetz finden sich Regelungen zur Zulassung von Wertpapieren oder zu den Pflichten der Emittenten während der Börsennotierung. Vielmehr findet sich in Art. 35 FinfraG das Erfordernis, dass die Börsen selbst ein Reglement über die Notierung von Wertpapieren und deren Zulassung zum Handel erlassen müssen. Diese gesetzliche Ermächtigung zur Selbstregulierung hat die SIX in Form des Kotierungsreglements umgesetzt, aus diesem leiten sich alle weiteren kotierungsrechtlichen Regulierungen ab (z.B. Handelsreglement und Meldereglement). Rechtsverbindlichkeit erlangen die Reglemente mit Genehmigung der Finanzmarktaufsicht.

Für die Durchsetzung der Erlasse und Entscheide der regulatorischen Organe sind die verschiedenen Rechtsprechungsinstanzen der SIX zuständig. Die Judikative setzt sich aus drei Instanzen zusammen:  Sanktionskommission, unabhängige Beschwerdeinstanz und Schiedsgericht.

Die Sanktionskommission ist dafür zuständig, Sanktionen gegen juristische und natürliche Personen auszusprechen. Allerdings nur dann, wenn diese in den Kreis der Betroffenen fallen, d.h. dass sie dem Kotierungsreglement, Handelsreglement und den Zusatzreglementen der SIX unterstellt sein müssen. Die Errichtung der zweiten Rechtsprechungsinstanz, der unabhängigen Beschwerdeinstanz, ist gemäß Art. 37 FinfraG verpflichtend. Auch hier setzt die SIX die gesetzlichen Vorgaben selbstregulierend um, somit existiert für die Beschwerdeinstanz ein eigenes Reglement. Als dritte und letzte Instanz agiert das Schiedsgericht, welches dann angerufen werden kann, wenn bereits ein Entscheid einer der beiden Vorinstanzen vorliegt und die Gegenpartei Klage erheben möchte. Die Schiedsabrede kann nur freiwillig durch private Vereinbarung zwischen Gegenpartei und Börse begründet werden. Der Entscheid des SIX Schiedsgerichts ist endgültig und ausschließlich. Öffentlich-rechtliche Verfahrensschritte kann die Gegenpartei nicht einleiten, da das Schiedsgerichtsverfahren der Schweizer Zivilprozessordnung unterliegt.

Das exekutive Element der Selbstregulierung ist die SIX Exchange Regulation. Die Aufgabe dieser regulatorischen Einheit ist es unter anderem die vom Regulatory Board festgesetzten Regeln zu vollziehen und zu überwachen.

Die Selbstregulierung der Schweizer Börse SIX ist ein Paradebeispiel für die obligatorische Selbstregulierung, auch Koregulierung genannt. Wie bereits erwähnt, beinhaltet Art. 27 FinfraG eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung zur Selbstregulierung.  Die FINMA als staatliche Behörde gibt ihre Kompetenzen ab und agiert rein beaufsichtigend.

Mit ihrem regulatorischen Konzept sorgt die SIX sowohl für Reglementierung, Durchsetzung als auch Sanktionierung und erfüllt somit die Funktionen eines Regulierers. Auf der anderen Seite ist die SIX selbst Regulierter, da sie selbst börsennotiert und am Handelsplatz aktiv ist. Das Beispiel SIX als Selbstregulierer und Selbstregulierter spiegelt die eingangs genannte Definition der Selbstregulierung, welche beinhaltet, dass die Regelungsadressaten selbst unmittelbar von ihrer Regulierung betroffen sind.

Selbstregulierung – eine gute Alternative?

Während sich in der Schweiz das Prinzip der Selbstregulierung durchgesetzt hat, zeigt sich im Vergleich dazu bspw.  in den USA eine andere Herangehensweise. Hier werden die Regulierungskompetenzen den staatlichen Behörden aufgetragen. Fraglich ist, ob es nicht auch in der Schweiz sinnvoll wäre, der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht gesetzlich erweiterte Regulierungskompetenzen einzuräumen.

Gegen die Selbstregulierung spricht, dass es den Selbstregulierungsmaßnahmen oft an demokratischer Kontrolle und Legitimation fehlt. Am Beispiel der SIX zeigt sich, dass die Börse private Regelwerke entwickelt, die maßgebliche öffentliche Interessen berühren. Es handelt sich hier um eine gesetzesvertretende Selbstregulierung. Berechtigterweise kann hier kritisch hinterfragt werden, ob es der SIX als private Organisation gelingt, den Grundsatz der Gewaltenteilung und das Legalitätsprinzip zu wahren und umzusetzen wie es der Gesetzgeber tun würde. Zudem droht im Zuge der Selbstregulierung die Gefahr der dominierenden Selbstbegünstigung. Es ist naheliegend, dass die SIX weitestgehend die eigenen Interessen bzw. ihrer Mitglieder verfolgt und durchsetzt, es fehlt ihr an Objektivität.

Die im Schweizer Finanzmarktrecht vorherrschende Koregulierung sorgt zudem für Unübersichtlichkeit. Das Nebeneinander staatlicher Vorgaben und selbstregulierter Normen kann bei den Marktteilnehmern zu Verwirrung führen. Dementsprechend ist fehlende Transparenz das Ergebnis der zahlreichen Reglemente und Richtlinien der SIX.

Zuletzt wird ein großer Schwachpunkt der Selbstregulierung im Hinblick auf den mangelnden Rechtsschutz deutlich. Zeigt sich eine Gegenpartei mit der Entscheidung einer der Rechtssprechungsinstanzen der SIX unzufrieden, bleibt dieser nur der Zivilprozess. Die Anwendungsakte können grundsätzlich nicht mit öffentlich-rechtlichen Rechtsmitteln angefochten werden, dies stellt eine erhebliche Einschränkung bedingt durch die privatrechtlichen Regeln dar.

Andererseits sollen nun die erheblichen Vorteile der Selbstregulierung betrachtet werden, die den Schweizer Gesetzgeber dazu motivierten an dieser Regulierungsmöglichkeit weiter festzuhalten.

Die weitestgehend technischen Normen des Kapitalmarktrechts erfordern ein tiefgehendes Fachwissen. Entwirft der Staat Gesetze für diesen Bereich, ist er auf das Wissen von Experten angewiesen. Doch wie schon ein bekanntes Sprichwort besagt: guter Rat ist teuer. Das Fachwissen, welches in die Regelung und Kontrolle bei der Selbstregulierung einfließt, ist weder in einer staatlichen Behörde vorhanden, noch kann es mit vernünftigem Aufwand eingekauft werden. Verlagert man die Regulierung des Kapitalmarktrechts in die Branche selbst, hat dies eine enorme Kostenentlastung des Staates zur Folge. Zudem erreicht das Erschaffen von Regelungen aus der Branche für die Branche einen qualitativ hochwertigen Regulierungsstandard. Durch die Nähe zum Geschehen entwickeln die Experten effizientere Regelungen.

Für die Selbstregulierung spricht auch ihre hohe Reaktionsfähigkeit. Staatliche Regulierung kann auf die dynamischen Veränderungen der Finanzmärkte nicht so schnell reagieren wie es die Praxis oft verlangt. Der Prozess von der Problemerfassung bis hin zum Inkrafttreten eines Gesetzes kann im Worst Case bis zu zehn Jahre andauern. Die Selbstregulierung kann auf Innovationen schneller und flexibler reagieren und die Regelungen entsprechend anpassen.

Letztlich stößt Selbstregulierung auf eine erhöhte Akzeptanz bei den Marktteilnehmern. Diese Akzeptanz hilft vor allem bei der Durchsetzung der Regulierung. Die Selbstregulierung schafft der Branche einen Gestaltungsraum für Autonomie und Unabhängigkeit. Somit wirkt Selbstregulierung auch auf psychologischer Ebene: wer selbst seine Angelegenheiten regeln kann, wird besser motiviert sein die selbst entwickelten Regeln einzuhalten und durchzusetzen.

Mehr Koregulierung als Selbstregulierung?

Im Schweizer Finanzmarktrecht hat sich heute die Form der obligatorischen Selbstregulierung durchgesetzt, die Koregulierung. Der Staat liefert den sachgerechten gesetzlichen Rahmen, um die öffentlichen Interessen ausreichend zu berücksichtigen und zeigt entsprechend Präsenz durch Aufsichtsbehörden. Die Selbstregulierungsorgane bekommen einen abgesteckten Rahmen, in welchem sie sich frei entfalten können und mit dem nötigen Know-How passende Regelungen entwickeln. Das Zusammenspiel von Staat und Privaten zeigt sich am hier vorgestellten Beispiel der SIX AG.

Der Gesetzgeber setzt mit dem neuen FinfraG ein klares Zeichen, dass Selbstregulierung weiterhin ein wichtiger Bestandteil des Schweizer Finanzmarktrechts bleiben wird. Vorerst wird kein Änderungsbedarf hin zu einer stärker ausgeprägten staatlichen Regulierung der Finanzmärke gesehen. Dies ist wohl auch dadurch begründet, dass sich die Selbstregulierung im Schweizer Kapitalmarktrecht nur innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens und nicht darüber hinaus entfaltet. Dementsprechend werden die Selbstregulatoren nicht auf eigene, sondern auf staatliche, Initiative aktiv und stehen unter ständiger Aufsicht. Es verhärtet sich somit der Verdacht, dass bei der Schweizer Selbstregulierung mehr staatlich als privat reguliert wird. Im Ergebnis zeigt sich, dass das Prinzip der Selbstregulierung zumindest im Gesetz weiter präsent bleiben soll, die Umsetzung jedoch als Koregulierung erfolgt. Der Schweizer Gesetzgeber hat somit eine praktikable Lösung geschaffen, die sich bewährt und beweist, dass die Koregulierung auch bei einer komplexen Materie wie der Börse funktionieren kann.