„Es ist hinlänglich bekannt, dass den Grundlagenfächern in der juristischen Ausbildung häufig nicht die Aufmerksamkeit gewidmet wird, die ihnen gebührt.“ Mit dieser provokanten Aussage beginnt ein in der JuS 10/2012 veröffentlichter Artikel von Dr. Elmar Krüger, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Osnabrück, zum zu niedrigen Stellenwert der Rechtstheorie in der (wirtschafts)juristischen Ausbildung. Es gibt viele Gründe, sich mit den theoretischen Grundlagen des Rechts zu befassen.

Wenn Recht gelehrt wird, darf nicht nur das materielle, gerade geltende Recht in die Lehrveranstaltungen einbezogen werden. Vielmehr muss man beachten, dass Recht ein historisch gewachsenes Gesellschaftsprodukt mit auskristallisierten Weltanschauungen, politischen Strömungen, Wirtschafts- und Gruppeninteressen sowie Machtstrukturen ist. Es befindet sich im stetigen Wandel und muss stets kritisch hinterfragt werden. Angehende Juristen sollten nicht nur aus der Froschperspektive heraus einzelne Paragrafen anwenden, sondern versuchen, einen Überblick über die Grundlagen, die Entstehung und die Geltungsgründe der Rechtsvorschriften in dem jeweiligen nationalen oder gemeinschaftsrechtlichen Rechtssystem zu erlangen. Besonders bei Auslegungsfragen sind diese Fähigkeiten wichtig, da Recht trotz klar formulierter Normen vage, interpretationsfähig und -bedürftig ist. Eine Vielzahl von Meinungen in Rechtssprechung und Literatur zwingt Studenten häufig zur Wahl zwischen diversen Alternativen mit oft unterschiedlichen Rechtsfolgen. Ohne eine gesamtheitliche Betrachtung des Rechts drängt sich hier möglicherweise der Eindruck der Beliebigkeit auf. Es ist also wichtig zu wissen, wofür Recht überhaupt nützlich ist.

Laut Aristoteles ist der Mensch ein zoon politikon, d.h. ein politisches, nach Gemeinschaft strebendes Lebewesen. Dabei kann mit Gemeinschaft im Ergebnis sowohl die Familie als auch ein Staat gemeint sein. In jeder Gemeinschaft treten aber Interessenskonflikte auf, die eine Ordnung des Zusammenlebens erfordern. Rechtssicherheit und Rechtsfrieden dienen somit als Voraussetzung für wirtschaftlichen Wohlstand. Recht bewirkt eine Verhaltensregelung, ist dabei jedoch mehr als die Summe der geltenden Rechtsnormen. Wären nur die vom Staat gesetzten Rechtssätze Recht, würde dies zu einer gefährlichen, schrankenlosen Souveränität des Gesetzgebers führen, wodurch auch der gesetzliche Befehl zum „Verbrechen“ rechtens wäre. Recht muss daher auch die nötige Akzeptanz erhalten, um in der Praxis erfolgreich, mit dem Willen der Gesellschaft, angewendet werden zu können. Um akzeptiert zu werden, muss Recht simpel gesprochen auch gerecht sein, also dem übereinstimmenden Ge(recht)igkeitsgefühl aller Menschen entsprechen. Dies ist jedoch sehr schwierig, da nicht alle Menschen Gerechtigkeit gleich definieren oder überhaupt als Ziel anstreben. Dennoch stellt sie eine wichtige Voraussetzung für die Wirksamkeit des Rechts dar, unterliegt jedoch ebenfalls dem Wandel der Zeit. Es gibt etliche Theorien zur Gerechtigkeit, keine davon kann als richtig oder falsch abgestempelt werden, da jede Ansicht andere Voraussetzungen, Entstehungsgeschichten und Probleme mit sich bringt. Somit ist es jedem selbst überlassen, ob er den Naturrechtlern glaubt, die ihre Gerechtigkeitsprinzipien in der Natur der Sache oder Natur des Menschen angelegt sehen, oder doch lieber die zwischen Glück und Leid abwägenden Utilitaristen bevorzugt. Denkbar ist auch eine Einteilung der Gerechtigkeit in die austeilende Gerechtigkeit zwischen gesellschaftlich ungleich gestellten (Staat-Bürger) und in die ausgleichende Gerechtigkeit für Rechtsbeziehungen zwischen gleich gestellten (Bürger-Bürger) Individuen, sowie die Annahme eines von allen Menschen freiwillig geschlossenen Gesellschaftsvertrages.

Viel wichtiger als eine abstrakte Gerechtigkeitsformel zu finden ist es also, sich überhaupt mit der Thematik zu befassen und Gerechtigkeit als wichtige Voraussetzung für Recht zu begreifen. Wenn jedoch bereits eine wichtige Grundlage für Recht auf unterschiedlichen Auffassungen beruht, ist es logisch, dass es keine geschichtslose oder unpolitische Rechtsanwendung geben kann, wodurch auch eine klare Auslegungsbestimmung entfällt. Die heute angewendeten Auslegungsarten nach dem Wortlaut, nach der Systematik, nach der Entstehungsgeschichte oder nach dem Zweck sind, ähnlich wie unterschiedliche Rechtssprechungen und Literaturmeinungen, daher keinesfalls willkürlich oder beliebig entstanden. Ihre Benutzung darf durch Studierende demnach auch nicht willkürlich, sondern sach- und zeitgemäß erfolgen. Um dies zu realisieren, reicht das pure Anwenden von Rechtsnormen jedoch nicht aus, weshalb der Autor mit seiner anfänglichen Aussage durchaus richtig liegt. Allerdings muss eine Differenzierung zwischen Universitäten mit einem selbst kommunizierten Auftrag  Forschung und Wissenschaft und Fachhochschulen mit dem vorherrschenden Ziel der bestmöglichen Vorbereitung auf die Praxis vorgenommen werden.