Am 28. Juni 2012 hat sich der Europäische Gerichtshof auf Anrufung durch den Bundesgerichtshof zur Auslegung der Begriffe des Vorliegens einer “präzisen Information” bei zeitlich gestreckten Vorgängen und dessen Zwischenschritten und der “hinreichenden Wahrscheinlichkeit” des Eintritts einer Reihe von Umständen oder eines Ereignisses geäußert. Vorab war im Fall Geltl vs. Daimler die Frage aufgekommen, wann das Vorliegen einer Insider-Information festgestellt werden kann. 

Sachverhalt 

Nach der Hauptversammlung am 6. April 2005 trug sich der Vorstandsvorsitzende der Daimler AG, Herr Schrempp, zunehmend mit dem Gedanken vorzeitig von seinem Amt zurückzutreten. Am 17. Mai äußerte er seine Absicht erstmals gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden des Unternehmens. Zwischen 1. Juni und 27. Juli wurden weitere Mitglieder des Aufsichtsrats und des Vorstands darüber informiert. Ab dem 10. Juli wurde eine Pressemitteilung der Entscheidung Herr Schrempps vorbereitet. 

Am 18. Juli 2005 einigten sich Herr Schrempp und der Aufsichtsratsvorsitzende darauf, das Ausscheiden von Herrn Schrempp und die Nominierung seines Nachfolgers Herrn Zetsche bei der Aufsichtsratssitzung am 28. Juli zu verkünden. Der Präsidialausschuss des Aufsichtsrates von Daimler beschloss am Abend des 27. Juli, dem Aufsichtsrat am darauffolgenden Tag die Zustimmung zum Ausscheiden und zur Nominierung zu empfehlen. Am 28. Juli um 9:50 Uhr beschloss der Aufsichtsrat, dass Herr Schrempp zum Jahresende aus dem Amt ausscheidet und durch Herrn Zetsche ersetzt werden wird. 

Der Beschluss wurde anschließend an die Geschäftsführungen der Börsen und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht gesendet und in der Datenbank der Deutschen Gesellschaft für Ad-Hoc-Publizität veröffentlicht. 

Nach der Bekanntmachung dieser Entscheidung stieg der Kurs der Aktien von Daimler deutlich an. Die Kläger, Herr Geltl und andere, hatten vor der Veröffentlichung dieses Beschlusses ihre Aktien verkauft und waren der Auffassung, dass sie durch die verspätete Veröffentlichung der Informationen einen Schaden erlitten haben und verlangten Schadensersatz von Daimler. 

Problematik des Falles 

Um die Problematik des Falles zu verstehen, ist es nötig, zuerst den Hintergrund der zugrundeliegenden Normen zu analysieren. 

Wirtschaftswachstum und Wohlstand der EU-Mitgliedsstaaten sind in Art. 3 Absatz 3 Satz 2 EUV als übergeordnete Ziele der Europäischen Union verankert. Das reibungslose Funktionieren der Finanzmärkte und das Vertrauen der Öffentlichkeit in diese, werden als grundlegende Voraussetzung für die Integrität der Finanzmärkte gesehen. Um diese Güter zu schützen, versucht der Unionsgesetzgeber Marktmissbrauch zu verhindern, daher wurden die Richtlinien 2003/6/EG und 2003/124/EG erlassen. Gemäß Erwägungsgrund 12 der Richtlinie 2003/6/EG sind demnach Insider-Geschäfte und Marktmanipulation als Marktmissbrauch zu verstehen. 

Zu Beginn der Richtlinie 2003/6/EG werden die Tatbestandsmerkmale einer Insider-Information in Art. 1 Nr. 1 Abs. 1 erstmalig definiert als „eine nicht öffentlich bekannte präzise Information, die direkt oder indirekt einen oder mehrere Emittenten von Finanzinstrumenten oder ein oder mehrere Finanzinstrumente betrifft und die, wenn sie öffentlich bekannt würde, geeignet wäre, den Kurs dieser Finanzinstrumente oder den Kurs sich darauf beziehender derivativer Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen“. Nach Auffassung des EuGHs sind hierin vier Tatbestandsmerkmale zu erkennen, die alle erfüllt sein müssen, um das Vorliegen einer solchen Information grundsätzlich feststellen zu können. Die Information muss präzise sein, nicht öffentlich bekanntdirekt oder indirekt in der Lage sein ein oder mehrere Finanzinstrumente oder deren Emittenten zu betreffen und bei Veröffentlichung geeignet sein, um den einschlägigen Kurs erheblich zu beeinflussen. Grundsätzlich sind gemäß Art. 6 Abs. 1 Informationen dieser Art „so bald als möglich der Öffentlichkeit bekannt“ zu geben. In Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie werden weiterhin Regelungen dahingehend getroffen, in welchem Fall ein Emittent die Bekanntgabe einer Insider-Information aufschieben darf. Diese sind für den vorliegenden Fall jedoch von untergeordneter Bedeutung. 

Die Problematik des Falls besteht nunmehr darin, dass unklar ist, ab wann eine Information präzise genug ist, um als Insider-Information im Sinne der Richtlinie verstanden werden zu können.  

Die Normierungen der Richtlinie 2003/124/EG sollen die Rechtssicherheit für die Marktteilnehmer erhöhen, indem zwei wesentliche Tatbestandsmerkmale der Insider-Information genauer bestimmt werden, nämlich die präzise Natur der Information und ob diese Information möglicherweise den Kurs der Finanzinstrumente (oder den der damit verbundenen derivativen Finanzinstrumente) erheblich beeinflussen wird

Laut Art. 1 Abs. 1 der RL 2003/124/EG ist eine Information in zwei Fällen als präzise anzusehen. Zum einen ist dies der Fall, „wenn damit eine Reihe von Umständen gemeint ist, die bereits existieren oder bei denen man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass sie in Zukunft existieren werden“. Zum anderen, wenn damit ein Ereignis gemeint ist, „das bereits eingetreten ist oder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in Zukunft eintreten wird“. In beiden Fällen ist jedoch eine zwingende Voraussetzung, dass die Information „spezifisch genug ist, dass sie einen Schluss auf die möglichen Auswirkungen dieser Reihe von Umständen oder dieses Ereignisses auf die Kurse von Finanzinstrumenten … zulässt“. In Art. 1 Abs. 2 wird zudem normiert, dass mit einer Insider-Information gem. Art. 1 Abs. 1 Richtlinie 2003/6/EG eine Information gemeint ist, „die ein verständiger Anleger wahrscheinlich als Teil der Grundlage seiner Anlageentscheidungen nutzen würde“. 

Die unionsrechtlichen Regelungen wurden mit einer Änderung des Gesetzes über den Wertpapierhandel (WpHG) am 28. Oktober 2004 ins deutsche Recht umgesetzt. Der abgeänderte § 13 Abs. 1 WpHG definierte Insider-Information nunmehr als „konkrete Information über nicht öffentlich bekannte Umstände, die sich auf einen oder mehrere Emittenten von Insiderpapieren oder auf die Insiderpapiere selbst beziehen und die geeignet sind, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Börsen- oder Marktpreis der Insiderpapiere erheblich zu beeinflussen“. Der dritte Satz führt aus, dass unter „Umständen“ gem. Satz 1 auch solche Umstände gelten, „bei denen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass sie in Zukunft eintreten werden“. Ein Verstoß gegen die Bekanntmachungspflicht von Insider-Informationen begründet nach § 15 Abs. 6 WpHG eine Verpflichtung zum Ersatz des daraus entstandenen Schadens. 

Im vorliegenden Fall stellt sich also die Frage, wann davon ausgegangen werden konnte, dass der Rücktritt des Vorstandsvorsitzenden hinreichend wahrscheinlich war. Zu diesem Zeitpunkt wäre nämlich eine Veröffentlichungspflicht über diese Information entstanden. Die Gerichte haben bei der Auslegung dieses Tatbestandsmerkmals verschiedene Standpunkte vertreten. 

Das OLG Stuttgart vertrat in seinem Beschluss vom 15.02.2007 die Auffassung, dass der Umstand, dass Herr Schrempp von seinem Amt zurücktritt, erst dann hinreichend wahrscheinlich geworden war, nachdem am Abend des 27. Juli 2005 der Präsidialausschuss die Entscheidung traf, dem Aufsichtsrat die Zustimmung zum Ausscheiden von Herrn Schrempp zu empfehlen.  

Das OLG Frankfurt am Main bestätigte in seinem Beschluss vom 12.02.2009 eine Pflicht zur Veröffentlichung der Informationen sobald „sich die interne Willensbildung zu einem konkreten Beschluss verdichtet habe und diese gegenüber einem Entscheidungsträger des betreffenden Unternehmens offengelegt worden sei“. Also reiche es demnach aus, dass Herr Schrempp seinen Willen immer mehr verfestigte und diesen Willen auch nach außen getragen hat, nämlich als er dem Aufsichtsratsvorsitzenden davon erzählt hat. Daraus würde folgen, dass die Information bereits am 17. Mai 2005 veröffentlichungspflichtig wurde.  

Anrufung des EuGHs 

Der BGH hat dem EuGH im vorliegenden Fall zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. 

Die erste Frage befasst sich damit, ob bei einem zeitlich gestreckten Vorgang, bei dem über mehrere Zwischenschritte ein bestimmter Umstand verwirklicht bzw. ein Ereignis herbeigeführt wird, nur der künftige Umstand als präzise Information im Sinne der Richtlinie zu sehen ist oder ob bei einem zeitlich gestreckten Vorgang auch die einzelnen Zwischenschritte, die mit der Verwirklichung verknüpft sind, als präzise Informationen verstanden werden können. 

Bei der zweiten Frage geht es darum, ob „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ eine hohe oder überwiegende Wahrscheinlichkeit des Eintritts meint oder ob die Bewertung der Wahrscheinlichkeit von dem Ausmaß der Auswirkungen abhängt, welche diese Information bei Veröffentlichung auf die einschlägigen Kurse hätte. 

Auffassung des EuGHs 

Der EuGH stellt bezüglich der ersten Frage dar, dass auch ein Zwischenschritt eines zeitlich gestreckten Vorgangs selbst eine präzise Information im Sinne beider Richtlinien darstellen könne. Für diese Auffassung spräche auch die Aufführung typischer Zwischenschritte im Art. 3 Abs.1 der Richtlinie 2003/124/EG als Fallbeispiele unter denen ein berechtigtes Interesse zum Aufschub der Bekanntmachung vorliegen kann. Genannt werden hier in einer nicht abschließenden Auflistung laufende Verhandlungen und noch zustimmungsbedürftige Verträge. Weiterhin bestünde die Gefahr einer Beeinträchtigung der Marktintegrität und des Vertrauens der Öffentlichkeit, wenn Zwischenschritte selbst nicht als präzise Information betrachtet werden könnten. Es würde in diesem Fall nämlich auch dann eine Veröffentlichungspflicht entfallen, wenn die Information ganz spezifischen Charakter hätte und alle Tatbestandsmerkmale der Art. 1 Abs. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2003/6/EG erfüllt wären.  

Die zweite Frage lasse sich laut des Gerichts nicht alleine mit der Auslegung des Wortlauts der „hinreichenden Wahrscheinlichkeit“ beantworten, da keiner einzelnen Sprachfassung eines Mitgliedstaaten Vorrang vor den anderen Sprachfassungen eingeräumt werden könne. Von daher sei vielmehr auf den Sinn und Zweck und die allgemeine Systematik der Regelung abzustellen. Eine beschränkende Auslegung des Begriffs auf hohe oder überwiegende Wahrscheinlichkeit stelle eine Beeinträchtigung der Zielsetzung der Richtlinie dar. Weiterhin werde in den Fassungen der anderen Mitgliedstaaten die Formulierung „vernünftigerweise“ verwendet. Hieraus folge, dass es sich um künftige Ereignisse oder Umstände handele, dessen Existenz oder zukünftiger Eintritt, bei einer umfassenden Würdigung der bereits verfügbaren Anhaltspunkte, tatsächlich erwarten werden kann. Eine Abhängigkeit vom möglichen Ausmaß der Auswirkungen auf den Kurs verneint der EuGH daher, dass ansonsten womöglich auch extrem unwahrscheinlich eintretende Umstände eine Insider-Information darstellen und somit eine Veröffentlichungspflicht begründen könnten, nur weil das tatsächliche Eintreten und die Bekanntmachung der Information enorme Auswirkungen auf den betroffenen Kurs haben würden. 

Fazit

Typische Zwischenschritte eines zeitlich gestreckten Vorgangs sind also als präzise Information im Sinne der Richtlinien 2003/124/EG und 2003/6/EG anzusehen. Darüber hinaus gilt für diese eine Veröffentlichungspflicht, um die mögliche Gefahr einer Beeinträchtigung der Marktintegrität zu beseitigen und das Vertrauens der Öffentlichkeit zu gewährleisten. Typischerweise handelt es sich hierunter um Fälle wie laufende Verhandlungen, Entscheidungen eines Geschäftsführungsorganes oder abgeschlossene Verträge, die die Zustimmung eines anderen Organes bedürfen, um wirksam zu werden. Dabei ist die Abhängigkeit jeglicher Auswirkungen auf den Kurs nicht zwingend maßgeblich. Der EuGH klärte außerdem, dass die Auslegung nach dem deutschen Wortlaut der umgesetzten Norm, nicht dem Sinn und Zweck und der allgemeinen Systematik beider europäischen Richtlinien vorgezogen werden könne. Eine solche Beschränkung würde der Zielsetzung dieser Richtlinien zuwider laufen.

Um Marktmissbrauch stärker entgegenzuwirken, wurden im Jahr 2014 schließlich die Verordnung Nr. 596/2014 (Marktmissbrauchsverordnung) und die Richtlinie 2014/57/EU (Marktmissbrauchsrichtlinie) durch den Europäischen Rat und das Europäische Parlament erlassen. Diese lösten unter anderem die in diesem Fall einschlägigen Richtlinien 2003/6/EG und 2003/124/EG ab.

Während die Marktmissbrauchsverordnung verschiedene Handlungen, wie Insider-Geschäfte oder Marktmanipulation, EU-weit einheitlich definiert, sieht die Marktmissbrauchsrichtlinie Mindestvorschriften für staatlichen Sanktionen bei Verstößen vor. Welchen Einfluss die in diesem Artikel dargestellte Entscheidung des EuGH hatte, wird besonders anhand des Art. 7 Abs. 3 der Marktmissbrauchs-VO, welcher Zwischenschritte eines zeitlich gestreckten Vorganges erstmals als mögliche Insiderinformation aufführt, deutlich.

Auch in jüngeren Jahren haben Verstöße gegen Mitteilungspflichten die Gemüter erhitzt. Besonders der sog. „Dieselgate“-Skandal hat für viel Aufruhr in der Justiz gesorgt und wurde ebenfalls schon auf unserem Blog besprochen. Den Artikel dazu, findest du hier.