Theoretisch schützt die Niederlassungsfreiheit den Zuzug von Gesellschaften innerhalb der EU. Faktisch zuziehen kann jedoch nur, wer es zunächst schafft, aus dem Gründungsstaat wegzuziehen. Der Wegzug ist die eigentliche Hürde, da der Wegzug im Gegensatz zum Zuzug von Gesellschaften nicht von der Niederlassungsfreiheit geschützt ist. Dies verdeutlichen die Gerichtsurteile Daily Mail und Centros, die der Europäische Gerichtshof (EuGH) fällte.

Da es in Europa bisher kein einheitliches Gesellschaftsrecht gibt, kommt es immer wieder zu Problemen, wenn Gesellschaften über ihre nationalen Grenzen hinweg agieren. Gesellschaften sind zunächst Produkte ihrer nationalen Rechtsordnungen. Nach diesen nationalen Rechtsordnungen bestimmt sich das auf die Gesellschaften anwendbare Recht (sog. Gesellschaftsstatut). Das Gesellschaftsstatut bezeichnet das Recht, nach dem sich die Rechtsverhältnisse einer Gesellschaft richten. Dazu gehören etwa die Gründung, das Bestehen und die Beendigung von Gesellschaften. Zur Bestimmung des Gesellschaftsstatus werden zwei Theorien vertreten: die Sitz- und die Gründungstheorie. Nach der Sitztheorie ist ein Sachverhalt nach dem Recht des Staates zu beurteilen, in dem die Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungshauptsitz hat. Der tatsächliche Verwaltungshauptsitz liegt dort, wo die Gesellschaft hauptsächlich tätig ist. Nach der Gründungstheorie ist das Recht jenes Staates anzuwenden, in dem die Gesellschaft gegründet wurde. Diese Theorien spielen eine wichtige Rolle für das Verständnis der Entscheidung Centros (EuGH, 09.03.1999 – C 212/97). Die Anknüpfung der Theorie bezieht sich dabei auf die Rechtsfrage, ob die Centros Limited (Ltd.) einen Anspruch auf die Wahrung ihrer Rechtsform hat.

Den Kern beider Entscheidungen bildet jedoch die Fragestellung, ob jeweils die Niederlassungsfreiheit einschlägig ist. Die Niederlassungsfreiheit ist in Art. 49 AEUV geregelt und ist gem. Art. 54 AEUV nicht nur auf natürliche Personen, sondern auch auf Gesellschaften anwendbar. Mit Niederlassung ist die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedsstaat auf unbestimmte Zeit gemeint. Die darauf bezogene Freiheit soll europäischen Gesellschaften, unabhängig von ihren jeweiligen nationalen Rechtsordnungen, gem. Art. 49, 54 AEUV garantiert werden. Eine Auseinandersetzung mit den Entscheidungen Daily Mail (EuGH, 27.09.1988) und Centros (EuGH, 09.03.1999 – C 212/97) ist für das Verständnis der Niederlassungsfreiheit unerlässlich.

 

Daily Mail (EuGH, 27.09.1988)

Die Entscheidung Daily Mail thematisiert einen Sachverhalt, bei dem die Daily Mail, eine in Großbritannien gegründete Ltd., ihren Verwaltungssitz von Großbritannien in die Niederlande verlegen wollte, um von den dortigen günstigeren Steuerbedingungen zu profitieren. Die britischen Behörden wollten nicht auf die Steuerzahlungen der Daily Mail Ltd. verzichten und untersagten somit deren Wegzug. Die Daily Mail Ltd. sah darin einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit.

Der EuGH hingegen entschied, dass die Niederlassungsfreiheit in diesem Fall nicht anwendbar ist. Diese schützt nicht den identitätswahrenden Wegzug von Gesellschaften. Gesellschaften sind Produkte ihrer nationalen Rechtsordnungen und haben gegenüber ihren Gründungsstaaten keinen Anspruch auf Wegzug unter Aufrechterhaltung ihrer Rechtsform. Die britischen Behörden handelten somit rechtmäßig, als sie den Wegzug der Daily Mail Ltd. untersagten.

 

Centros (EuGH, 09.03.1999 – C 212/97)

Anders beurteilte der EuGH den Fall Centros, einer ebenfalls nach britischem Recht gegründeten Ltd. mit Scheinsitz in Großbritannien. Hintergrund der Wahl des Gründungsortes Großbritannien war die Umgehung der Mindestkapitalanforderungen in Dänemark. Eine Ltd. erfordert nämlich kein gesetzliches Mindestkapital, was die Gesellschaftsform unter Gründern besonders beliebt macht. In Großbritannien sollte keinerlei Geschäftstätigkeit erfolgen und der tatsächliche Verwaltungssitz der Centros Ltd. sollte in Dänemark liegen. Die dänischen Behörden verweigerten die Eintragung einer Zweigniederlassung der Centros Ltd. in Dänemark. Die Zweigniederlassung in Dänemark stellt faktisch eine Hauptniederlassung dar, da in der Niederlassung in Großbritannien keinerlei Geschäftstätigkeit erfolgt. Diese Vorgehensweise beurteilten die dänischen Behörden als eine rechtsmissbräuchliche Umgehung des dänischen Gesellschaftsrechts.

Der EuGH entschied in diesem Fall, dass es sich bei der Verweigerung der Eintragung der Zweigniederlassung in Dänemark um einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit handelt. Mit der Gründung der Centros Ltd. in Großbritannien wurden die ihr zustehenden europarechtlichen Möglichkeiten in legitimer Weise genutzt. Der Zuzug einer Zweigniederlassung, auch als einzige tatsächliche Niederlassung zur Sicherung betriebswirtschaftlicher Vorteile, stellt keinen Rechtsmissbrauch dar. Zum einen schützt die Niederlassungsfreiheit hier den Zuzug der Zweigniederlassung. Darüber hinaus führt der Schutz der Niederlassungsfreiheit zur zwingenden Anwendung der Gründungstheorie. Das liegt daran, dass eine Gesellschaft, die in einem anderen EU-Staat gegründet wurde nach ihrem Zuzug nicht schlechter gestellt werden darf als im Inland gegründete Gesellschaften. Bei Anwendung der Sitztheorie würde die Ltd. in Dänemark nicht anerkannt werden, da es sich dabei nicht um eine dänische Rechtsform handelt. Dies würde gegen die Niederlassungsfreiheit verstoßen. Die Anerkennung der Ltd. in Dänemark richtet sich somit gemäß der Gründungstheorie nach ihrer Anerkennung in ihrem Gründungsstaat. Großbritannien kennt die Gesellschaftsform der Ltd. Dies bedeutet, dass die Gesellschaft unter Wahrung ihrer Rechtsform zuziehen kann.

Fortgesetzt hat sich die Rechtsprechung des EuGH zum Zuzug von Gesellschaften in den Entscheidungen Überseering (EuGH, 05.11.2002 – C-208/00) und Inspire Art (EuGH, 30.09.2003 – C-167/01).

 

Zusammenfassung und Fazit

Die Daily Mail Ltd. scheiterte bereits daran, dass sie es nicht aus der britischen Rechtsordnung herausschaffte. Dies liegt daran, dass die Niederlassungsfreiheit nicht den identitätswahrenden Wegzug von Gesellschaften schützt. Bei der Centros Ltd. hingegen ist die Niederlassungsfreiheit anwendbar, weil diese den Zuzug von Gesellschaften innerhalb der EU schützt. Darüber hinaus führt der Schutz der Niederlassungsfreiheit zur Anwendung der Gründungstheorie, sodass sich die Rechtsform der Ltd. nach britischem Recht richtet. Die unterschiedliche Beurteilung der Entscheidungen Daily Mail und Centros mag widersprüchlich erscheinen, da der Zuzug von Gesellschaften unter den Schutz der Niederlassungsfreiheit fällt, der Wegzug jedoch nicht. Gesellschaften müssen ja schließlich zunächst aus ihrem Gründungsstaat wegziehen, um in einen anderen Staat zuzuziehen. Dies mag inkonsequent erscheinen. Im Jahr 2008 bestätigte der EuGH mit dem Cartesio Urteil (EuGH, 16.12.2008 – C-210/06) allerdings, dass er an seiner Auffassung aus dem Daily Mail Urteil festhält und der Wegzug von Gesellschaften innerhalb der EU nicht von der Niederlassungsfreiheit erfasst ist (Eine Auseinandersetzung mit dem Cartesio Urteil und auch dem oben erwähnten Überseering Urteil als Fortsetzung der Centros Entscheidung nimmt Viktoria Stepankova innerhalb ihres Beitrags Internationales Gesellschaftskollisionsrecht in der EU: Welches Recht ist auf eine grenzüberschreitend agierende Gesellschaft anzuwenden? vor). Somit ist der Zuzug, nicht aber der Wegzug von Gesellschaften in Europa von der Niederlassungsfreiheit geschützt. Um zuziehen zu können, müssen Gesellschaften es zunächst schaffen, aus ihrer nationalen Rechtsordnung wegzuziehen. Dies ist Centros gelungen und Daily Mail nicht. Der britische Gesetzgeber sieht einen identitätswahrenden Wegzug von in Großbritannien gegründeten Ltd. nicht vor. Wird eine Ltd. trotzdem in Großbritannien gegründet, unterwirft die Gesellschaft sich freiwillig der britischen Rechtsordnung und muss davon ausgehen, dass der Wegzug der Ltd. untersagt wird. Daher sind Gesellschaften, die in Großbritannien gegründet werden, nicht schlechtergestellt, als Gesellschaften, die in anderen europäischen Staaten gegründet werden. Gesellschaften unterliegen ihren eigenen Rechtsordnungen.

Mit dem Brexit wird sich jedoch vieles grundlegend ändern. Im Zusammenhang mit dem Brexit werden als drastische Konsequenzen oft die umsatzsteuerlichen Folgen für den Handel mit Großbritannien genannt. Doch auch auf die Anerkennung von Limiteds als Gesellschaftsform wird sich der Brexit stark auswirken. Tritt Großbritannien aus der EU aus, wird die Niederlassungsfreiheit auf ihre Gesellschaften keine Anwendung mehr finden und das Gesellschaftsstatut wird sich, wie im Falle aller anderen Drittstaaten auch, nach der Sitztheorie richten. Sollte der Gesetzgeber bis dahin diesbezüglich untätig bleiben, wird die Ltd. als Gesellschaftsform demnach in Europa über die britischen Grenzen hinweg überhaupt nicht mehr anerkannt werden. Für Limiteds mit Verwaltungssitz in Deutschland stellt die vierte Änderung des deutschen Umwandlungsgesetzes eine diesbezügliche Handlungsmöglichkeit dar. Eine kritische Auseinandersetzung dazu nimmt Mareike Peterson in ihrem Artikel Der Gesetzesentwurf zur vierten Änderung des UmwG als Rettung der Limiteds im Brexit? vor.