Mit den meisten Mitbestimmungsgesetzen und der größten Zahl an unterschiedlichen Arbeitnehmer-Vertretungsorganen ist Deutschland Spitzenreiter in Europa. Daher ist es nicht verwunderlich, dass immer mehr deutsche Unternehmen die 2004 eingeführte europäische Aktiengesellschaft „Societas Europaea“ (SE), als Rechtsform bei einer Umwandlung wählen. Prominente Beispiele in der deutschen Wirtschaft sind dabei Deutsche Wohnen, MLP und Zalando. Neben diesen Gesellschaften haben sich bereits 10 Jahre nach der Einführung über 2000 Unternehmen zur Umwandlung in eine SE entschieden. Ende 2018 wurde sogar die Marke der 3000 Umwandlungen geknackt. Die Attraktivität steigt und das nicht ohne Grund.
I. Warum in eine SE umwandeln?
Nun stellt sich die Frage inwiefern diese Gesellschaftsform Anreize dafür schafft, sich in eine SE umwandeln zu wollen. Diese liegen beispielsweise in:
– den lockereren Mitbestimmungsregelungen in Europa gegenüber Deutschland. Die SE ist damit attraktiv für Arbeitgeber, die einen kleinen Aufsichtsrat (oder keinen Aufsichtsrat) mit möglichst wenig Arbeitnehmervertretern anstreben,
– der Flexibilität, zwischen einem dualistischen oder einem monistischen System wählen zu können,
– der Mobilität, den Unternehmenssitz europaweit unkompliziert in einen anderen Mitgliedstaat verlegen zu können,
– dem positiven Image, sich international auszurichten zu können und somit attraktiver für ausländische Investoren zu werden.
II. Warum der Mitbestimmung durch die Umwandlung in eine SE entfliehen?
Im Zusammenhang mit der Umwandlung in eine SE wird häufig von der „Flucht aus der Mitbestimmung“ gesprochen. Da gerade in Deutschland die einzuhaltenden Gesetze zur unternehmerischen Mitbestimmung besonders ausgeprägt sind, ergibt sich hieraus ein entsprechendes Motiv, diese möglichst zu umgehen. Begründet wird dies durch gesetzlich vorgeschriebene Schwellenwerte, nach denen in Deutschland die Verteilung der Aufsichtsratssitze bestimmt werden:
Ein Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern ist gemäß § § 1 Absatz 1 und 4 Abs. 1 DrittelbG mit einem Drittel der Aufsichtsratssitze mit Arbeitnehmervertretern zu besetzen.
Während ein Unternehmen mit mehr als 2000 Mitarbeitern nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG sogar zur Hälfte (paritätisch) aus Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat zu besetzen ist.
Diese Besetzung variiert dabei entsprechend mit schwankender Mitarbeiterzahl. Die Bestimmung in der europäischen Aktiengesellschaft sieht hingegen folgendes vor: Hier gilt das Vorher-Nachher-Prinzip – die vor der Gründung bestehenden Arbeitnehmerrechte sind danach gemäß § 35 Abs. 1 SEBG Ausgangspunkt für die Umwandlung in eine SE. Nach diesem Prinzip darf vom vorher bestehenden Mitbestimmungsniveau auch nach der Umwandlung nicht abgewichen werden. Selbst bei Erreichen von Schwellenwerten, die im deutschen Recht eine erhöhte Besetzung von Arbeitnehmervertretern bedeuten würden, findet keine entsprechende Anpassung statt. Diese Regelung ermöglicht es Unternehmen also, sich durch die Wahl dieser europäischen Rechtsform der arbeitnehmerseitigen Mitbestimmung über nationale Bestimmungen hinweg zu setzen.
III. Fluchtwege aus der Mitbestimmung
Aber wie genau schafft es das Unternehmen nun, sich der Mitbestimmung zu entziehen? Zum Einen ist dies durch das sogenannte „Einfrieren“ im Rahmen der Umwandlung in eine SE möglich. Das Unternehmen ist schon vor einer Umwandlung nicht arbeitnehmerseitig mitbestimmt. Mit steigender Mitarbeiterzahl und Erreichen der Schwellenwerte nach dem deutschen DrittelbG und MitbestG ist nach dem Vorher-Nachher-Prinzip auch danach keine solche Mitbestimmung einzuführen. Außerdem handelt es sich bei dem DrittelbG und MitbestG lediglich um nationales Recht, das nachrangig gegenüber europäischem Recht Anwendung findet. Sollte das Unternehmen jedoch schon mitbestimmt sein, wird versucht jenes bestehende Mitbestimmungsniveau beizubehalten und somit den Anstieg von Arbeitnehmervertretern bei wachsender Arbeitnehmerzahl zu verhindern. Dies bietet sich grundsätzlich vor Erreichen der bereits erwähnten Schwellenwerte an.
Zum anderen wird häufig im Zusammenhang mit der Mitbestimmungsflucht von “Ignorieren” geredet. Einige Unternehmen haben besagte Schwellenwerte an Arbeitnehmern nach dem DrittelbG oder MitbestG erreicht ohne eine gesetzeskonforme Arbeitnehmervertretung im Unternehmen einzurichten. So bekannte sich beispielsweise der Geschäftsführer der Meyer Werft in Papenburg offen zur Ablehnung der Beteiligung seiner Arbeitnehmer mit folgender Aussage: “Die Meyer Werft ist seit 220 Jahren ohne Aufsichtsrat erfolgreich gewesen und soll es auch zukünftig sein.” Trotz einer Zahl von mehr als 3.000 Mitarbeitern wurde im Unternehmen weder die Bildung eines Aufsichtsrates, noch eines Betriebsrates vollzogen. Begründet wurde dies mit der Flexibilität bei Entscheidungsfindungen und der damit einhergehenden Zeitersparnis. Problematisch hierbei ist, dass nach der Umwandlung in eine SE gemäß des Vorher-Nachher-Prinzips auch dieser Zustand “eingefroren” und nicht nachträglich angepasst werden kann.
IV. Prominente Beispiele aus der deutschen Wirtschaft
Die Vorzüge einer SE im Bezug zu den Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmer gingen auch nicht an dem Finanzdienstleister MLP aus Wiesloch vorbei. Derzeit besteht der Aufsichtsrat von MLP aus sechs Mitgliedern, wovon vier Mitglieder von der Hauptversammlung und zwei von Arbeitnehmern gewählt wurden, bei einer Mitarbeiterzahl von noch 1.722 Mitarbeitern. 2017 hat sich MLP Finanzdienstleistungen AG in eine SE umgewandelt. Dazu wurden in diversen Pressemitteilungen im Bezug zur Umwandlung folgende Beweggründe genannt: Die hohe Zahl der Aufsichtsratsmitglieder stehe nicht im Verhältnis zur Unternehmensgröße, da ein großer Aufsichtsrat den Entscheidungsfluss hemme und mit höherem Aufwand und Kosten einhergehe. Das Gründungsniveau solle beibehalten werden, sodass ein Anstieg der Arbeitnehmerzahl keinen Anstieg von Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat begründet. Außerdem sei sich die Gesellschaft sicher, dass die Zusammenarbeit mit europäischen Mitarbeitern die Erstellung eines einheitlichen Beteiligungsmodells unterstütze und die weltweit bekannte europäische Rechtsform attraktiver für ausländische Investoren sei.
Die Deutschen Wohnen SE hat ebenfalls die Vorteile einer SE genutzt. Sie war während ihrer Zeit als AG selbst bei Erreichen des Schwellenwerts überhaupt nicht mit Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat besetzt, ein typischer Fall des Ignorierens. Um diesen für sie idealen Zustand einzufrieren, hat sie sich in eine SE umgewandelt. Eine berechtigte Frage, die sich stellt, ist, aus welchem Grund die Gerichte die Möglichkeit dieser Umgehung nicht verhindern. Hierbei stellt der Instanzenzug des Verfahrens ein geeignetes Beispiel der Uneinigkeit unter den Gerichten dar. Stellt das LG Frankfurt/Main noch auf die Wesentlichkeit des Ist-Zustandes vor der Umwandlung ab, so entscheidet das OLG Frankfurt/Main zugunsten des bei vor der Umwandlung gesetzlich vorgeschriebenen Soll-Zustandes. Die folglich strittige Frage, ob der tatsächlich vorliegende Ist-Zustand oder der gesetzlich vorgeschriebene Soll-Zustand maßgeblich sind, wurde selbst vom BGH nicht eindeutig klargestellt. Hier wurde lediglich eine Zwischenform beider Zustände definiert und die vorangegangenen Urteile weder bestätigt noch widerlegt.
Am Beispiel der Umwandlung des großen Online-Versandhändlers Zalando AG in eine SE im Jahr 2014 wird deutlich, dass selbst Fehler im Umwandlungsprozess kein Hinderungsgrund für diesen sind. Ein Jahr danach klagte die Gewerkschaft ver.di hingegen auf Unwirksamkeit dieser Maßnahme, da zum einen die Besetzung des Besonderen Verhandlungsgremiums gemäß § 5 Abs. 1 SEBG fehlerhaft, sowie zum anderen keine Information über eine bevorstehende Bildung des Gremiums gemäß § 4 Abs. 2 SEBG erfolgt sei. Hieraus ergibt sich auch, dass ver.di nicht anteilig mit jedem dritten Mitglied im Gremium bei den Verhandlungen vor der Umwandlung beteiligt wurde, wie es eigentlich § 6 Abs. 3 SEBG verlangt. Diese Fehler lassen objektiv vermuten, der Umwandlung rückwirkend noch entgegenstehen zu können. Das Arbeitsgericht Berlin wies die Klage in seiner Urteilsbegründung allerdings aufgrund einer abgelaufenen Frist zurück: Um explizit gegen die Wahl der Mitglieder des Besonderen Verhandlungsgremiums vorgehen zu können, müsste diese, wie es § 37 Abs. 2 SEBG verlangt, bis zu einem Monat nach Verkündung der Umwandlung erfolgen. Vom Zeitpunkt der tatsächlichen Umwandlung bis zur Klage durch ver.di verging allerdings über ein Jahr. Daher ist nicht die Anfechtung, sondern unmittelbar die Nichtigkeit der Wahl des Gremiums zu betrachten. Diese hätte zwar eine unwirksame Vereinbarung zur Folge, beeinflusst im Ergebnis aber nicht die Zusammensetzung bestehender Gremien, sondern leitet lediglich neue Verhandlungsverfahren in den bereits bestehenden Gremien ein. Eine nachträgliche Anpassung der Zusammensetzung zugunsten der Arbeitnehmer ist somit also ausgeschlossen.
V. Änderungen wünschenswert!
Es herrschen große Diskrepanzen zur Mitbestimmung zwischen nationaler und europäischer Ebene. Die Mitbestimmungsflucht deutscher Gesellschaften sollte daher stark sanktioniert werden. Diese wäre vor allem bei Missachtung der Einrichtung entsprechender Mitbestimmungsorgane bei Erreichen der Schwellenwerte von 500 und 2000 Arbeitnehmern („Ignorieren“) erwünscht. Die SE-Richtlinie verweist hier aber lediglich bei der Zuständigkeit der Einführung von Sanktionen auf den jeweiligen Mitgliedstaat mit Hauptsitz des betreffenden Unternehmens.
Das Missbrauchsverbot für den Schutz der Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer wird in § 43 SEBG zwar explizit genannt, jedoch bezieht sich dieser Passus nur auf bereits bestehende Beteiligungsrechte nach Umwandlung in eine SE, nicht aber auf die Umgehung etwaiger Beteiligungsrechte mittels Umwandlung in eine SE. Auch diese Norm ist im Bezug auf potenzielle zukünftige Umgehungen veränderungsbedürftig.
Zudem sollte das „Einfrieren“ von Mitbestimmungsrechten gemäß des Vorher-Nachhher-Prinzips verhindert werden, indem Beteiligungsrechte auch nach einer Umwandlung auf expliziten Wunsch der Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmervertreter verändert werden können. Dies kann aktiv durch eine konsequente Rechtsprechung der Gerichte zugunsten der Arbeitnehmer erfüllt werden. Eine höchstinstanzliche Entscheidung, die der Entscheidung des OLG Frankfurt/Main entspricht, hätten eine abschreckende Wirkung auf Unternehmen, welche mittels Umwandlung in eine SE die Umgehung der Arbeitnehmermitbestimmung anstreben.
Sicherlich ist bei einer grenzübergreifenden Regelung von Kompromissen zwischen den Staaten auszugehen. Diese sollten aber eine möglichst geringe Differenz zum nationalen Recht des jeweiligen Mitgliedstaates haben. Europarechtliche Verordnungen und Richtlinien genießen zwar Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht, wünschenswert wäre jedoch, dass damit keine Nachteile für die Arbeitnehmer des Mitgliedstaats mit ursprünglich besseren Beteiligungsbedingungen folgen.
weiterführende Links
Mitbestimmungsflucht – Wie sich Unternehmen davonstehlen
Europa-AG – Arbeitnehmerrechte eingefroren
„Flucht aus der Mitbestimmung möglich?“ – Ein entscheidendes Urteil zur SE-Mitbestimmung
Die Societas Europaea (SE) als Vehikel zur Flucht aus der Mitbestimmung?
Interessant: hoher Zuzug von SEs in die Tschechische Republik