Seit Jahren versucht der europäische Gesetzgeber das Recht der Gemeinschaft für neue Möglichkeiten zu öffnen und insbesondere die neuen technologischen Entwicklungen in die Gesellschaftsprozesse zu implementieren. So wurde mit Art. 8 der in 2007 erlassenen europäischen Aktionärsrechte-Richtlinie den Aktionären die Möglichkeit vorgestellt an der Hauptversammlung auf elektronischem Wege teilzunehmen. Seit November 2009 finden die Regeln des Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechte-Richtlinie (ARUG I) Anwendung, was seinerseits zur Änderung des Aktiengesetzes geführt hat. Als Folge wurde §118 AktG um einen neuen Satz 2 erweitert, in dem die Möglichkeit der Online-Teilnahme an der Hauptversammlung vorgesehen war. 

118 Abs. 1 S. 2 AktG näher: Ist nun eine Hauptversammlung im Cyberspace möglich?

Nach §118 Abs. 1 S. 2 AktG können die Aktionäre ohne vor Ort physisch anwesend zu sein und ohne Bevollmächtigung eines Dritten an der Hauptversammlung in Echtzeit teilnehmen. Mit der Vorschrift räumt der Gesetzgeber die Möglichkeit einer elektronischen Teilnahme an der Hauptversammlung ein, legt aber keine Angaben fest, wie die konkret vollzogen wird. Ausgangspunkt für die Ermöglichung der Online-Teilnahme ist vielmehr die Satzung, die entweder eine entsprechende Klausel vorsieht oder den Vorstand dazu ermächtigt, selbst eine Regelung zu treffen.

Dem Aktiengesetz folgt grundsätzlich das Modell der Präsenzversammlung, was in dem Wortlaut des §118 Abs. 1 S. 2 AktG Ausdruck findet: „in der Hauptversammlung“. Aktiv beteiligen können sich demzufolge die anwesenden Aktionäre und Vertreter. Mit §118 Abs. 1 S. 2 AktG hat der Gesetzgeber aber nicht vorgesehen, dass eine rein virtuelle Hauptversammlung im Cyberspace durchgeführt werden kann. Die Präsenzhauptversammlung dient weiterhin als Grundlage, an der die online teilnehmenden Aktionäre im Rahmen einer Zwei-Wege-Direktverbindung in Echtzeit zugeschaltet sind.

Der durch das ARUG I eingefügte §118 Abs. 1 S. 2 AktG soll den online zugeschalteten Aktionär den physisch am Versammlungsort anwesenden Teilnehmer in jedweder Hinsicht gleichstellen. So sind die online teilnehmenden Aktionäre als echte Teilnehmer in der Versammlung präsent und auch in das Präsenzverzeichnis aufzunehmen. Die Online-Teilnehmer müssen deshalb auch die Teilnahmevoraussetzungen des §123 AktG erfüllen und sich entsprechend legitimieren.

Differenzierung zwischen physisch präsenten und zugeschalteten Teilnehmern erlaubt

Über die Frage, ob die online teilnehmenden Aktionäre sämtliche oder einzelne ihrer Rechte ganz oder teilweise in der Hauptversammlung ausüben können, entscheidet die entsprechende Satzungsklausel oder eine Festlegung durch den Vorstand. Während den auf der Präsenzversammlung erschienenen Aktionären grundsätzlich sämtliche Rechte zustehen, darunter das Teilnahme, Rede-, Auskunfts-, Beschlussantrags-, Stimm- sowie Widerspruchsrecht, können diese für die online teilnehmenden Aktionäre verkürzt werden.  Rechtlich möglich ist somit ein Fragerecht ohne ein Online-Recht auf Antwort oder Online-Stimmrecht ohne Möglichkeit der Onlineabgabe eines Widerspruchs zur Niederschrift einzuräumen. Die Entscheidung des Vorstands hinsichtlich einzelner Aspekte des Online-Teilnahmerechts ist mit der Hauptversammlungs-Einladung bekannt zu machen.

Diese Differenzierung zwischen den physisch präsenten und online zugeschalteten Aktionären ist gesetzlich in §118 Abs. 1 S. 2 AktG eröffnet und stellt keinen Verstoß gegen das in §53 a AktG geregelten Gleichbehandlungsgebot dar. Das Gleichbehandlungsgebot besagt nur eine Gleichbehandlung innerhalb der Gruppe der Onlineteilnehmer, nicht aber die Gleichstellung mit den Teilnehmern vor Ort.  So wäre die Ermöglichung einer elektronischen Teilnahme nur für Teile der Aktionäre unzulässig und nach §53 a AktG diskriminierend.

Technische Vorgaben für die Online-Teilnahme

In §118 Abs. 1 S. 2 AktG ist keine bestimmte Form der elektronischen Kommunikation vorgesehen. Dem Wunsch des Gesetzgebers entspricht aber nur eine in Echtzeit übertragene Kommunikation, also eine direkte Verbindung des online Teilnehmenden mit den anderen Aktionären, die die Wahrnehmung der Beiträge der redenden oder fragenden Aktionäre möglich macht. Im Rahmen der elektronischen Teilnahme besteht die Verpflichtung der Gesellschaft, die Sicherheit der eingesetzten Systeme bereitzustellen und technische Vorkehrungen zu treffen, die ein unbefugtes Eindringen in das System ausschließen. Der Gesetzgeber verlangt auch, dass die vorgenommenen Maßnahmen dem Stand der Technik entsprechen. Konkrete Maßnahmen wurden dabei aber nicht benannt, Vor allem die Legitimation durch eine elektronische Signatur wird nicht vorausgesetzt. Die Gesellschaft soll sichern, dass der Aktionär sich ausreichend authentifiziert und nicht versucht sein Stimmrecht doppelt auszuüben, etwa durch eine Online-Teilnahme und paralleles persönliches Erscheinen oder durch Stimmrechtsvertreter in der Hauptversammlung.

Mehr Risiken im Vergleich zu der klassischen Präsenzversammlung

Die Online-Teilnahme an der Hauptversammlung bereitet mehr Raum für Fehler im Vergleich zu der papiergebundenen Präsenzversammlung. Insbesondere die Gefahr von technischen Störungen und die Unklarheiten rund um die Rechte der Online-Aktionäre, verunsichern viele Gesellschaften, diese Form der Teilnahme zu nutzen.

Technische Störungen und Filibuster

Das Problem der Funktionsstörung bei der Online-Teilnahme an der Hauptversammlung hat der Gesetzgeber nicht geregelt. Ergeben sich aber technische Störungen, die die Teilnahme des Aktionärs an der Hauptversammlung entweder völlig oder auch nur zeitweise unmöglich machen, könnte einen Anfechtungsgrund vorliegen.  Sofern eine Störungsquelle in der Sphäre der Gesellschaft liegt, trifft sie bzw. den Vorstand als zuständiges Organ – ohne Rücksicht auf ein etwaiges Verschulden – eine Beseitigungspflicht. Liegen die technischen Störungen in der Sphäre des Aktionärs, trägt die Gesellschaft kein Risiko und für sie entstehen keine Behebungspflichten. Jeder Aktionär trägt dabei das Risiko hinsichtlich der Wahl der Medien, die er benutzt, um an der Versammlung teilzunehmen. Die Regelungen über die Onlineteilnahme an der Hauptversammlung sind durch einen Anfechtungsausschluss in §243 Abs. 3 Nr. 1 AktG ergänzt. Danach führen allerdings nur vorsätzliche oder grob fahrlässig hervorgerufene Störungen zur Anfechtbarkeit, die Beweislast liegt dabei beim Anfechtungskläger und die fehlenden Stimmen müssen für das Beschlussergebnis kausal sein.

Als weiteres Problem kommt in Betracht das endlose Verlängern der Sitzung durch nicht endende Beiträge, bekannt in dem englischen Sprachraum als Filibuster[1]. Da §131 Abs. 1 S. 1 AktG jedem Aktionär das Recht einräumt, vom Vorstand Auskunft über Angelegenheiten der Gesellschaft zu fordern, könnten kritische Aktionären versuchen, durch verlängerten Fragenkatalogen die Hauptversammlung zu blockieren. Allerdings bestimmt §131 Abs. 2 S. 2 AktG, dass die Satzung oder die Geschäftsordnung den Versammlungsleiter ermächtigen kann das Frage- und Rederecht des Aktionärs zeitlich angemessen zu beschränken.

Erhöhte Anfechtungsgefahr und Beschränkungen auf die Rechtsfolgenseite

Die Einräumung von Rede- und Fragerecht im Rahmen der Online-Teilnahme birgt mit sich nicht nur das Risiko, mit Fragenkatalogen überschwemmt, sondern auch mit Anfechtungen konfrontiert zu werden. Voraussetzungen für das Vorliegen einer Anfechtungsbefugnis sind nach §245 Nr.1 AktG das Erscheinen in der Hauptversammlung und die Einlegung eines Widerspruchs zur Niederschrift gegen den getroffenen Beschluss. Praktisch problematisch dürfte vor allem die Möglichkeit sein, mit Fernkommunikationsmitteln Widerspruch zur Niederschrift zu erheben. Die online teilnehmenden Aktionäre sind im Sinne der Vorschrift  „erschienen“ und können daher grundsätzlich auch einen Widerspruch zur Niederschrift erklären. Bei solcher Gestaltung wäre die Erhebung von Anfechtungsklagen aber erheblich vereinfacht, wenn die Klagebefugnis nicht mehr die physische Präsenz voraussetzt. Fraglich ist damit, ob einen Ausschluss des Widerspruchsrechts und damit der Anfechtungsbefugnis bei der Gestaltung der elektronischen Teilnahme vorgesehen werden kann, um die Erhebung missbräuchlicher Anfechtungsklagen möglichst einzuschränken. Wegen mangelnder Präzision des Gesetzestextes lässt sich diese Frage nicht leicht beantworten und zersplittert seit Langem die Meinungen in der Literatur.

Nach dem Motto: „Wer in den Genuss der Online-Teilnahme kommt, muss dafür auch Beschränkungen in seinen Teilnehmer-Rechten annehmen“, unterstützen einige Literaturstimmen den Ausschluss des Widerspruchsrechts für Online-Teilnehmer. Dafür spricht, dass der Gesetzgeber in §118 Abs. 1 Satz. 2 AktG der Satzung die Rechtebeschränkung für die online zugeschalteten Aktionären ausdrücklich erlaubt. Diese dürfen auch gegenüber den Präsenzteilnehmenden schlechter gestellt werden, ohne dass einen Verstoß gegen §53 a AktG vorliegt.

Einer stark vertretenen Meinung zufolge wäre die Gleichstellung des Online-Aktionärs mit dem physisch präsenten Aktionär verfehlt, wenn die Satzung die Ausübung des Widerspruchsrechts verbiete. Die Anfechtungsbefugnis aus § 245 AktG ist grundsätzlich für alle Formen der Teilnahme gegeben, auch für den online zugeschalteten Aktionär in der Hauptversammlung. Ein Anfechtungsausschluss ist nur in §243 Abs. 3 Nr. 1 AktG für den Fall der technischen Störung ausdrücklich vorgesehen, in allen anderen Fällen soll das Anfechtungsrecht gestattet sein. Können sich die online zugeschalteten Teilnehmer mangels Anfechtungsbefugnis niemals gegen eine Beeinträchtigung ihrer Mitverwaltungsrechte wehren, wäre ihre elektronische Teilnahme entwertet. Eine Beschränkung der Aktionärsrechte auf der Rechtsfolgenseite widerspräche auch dem Gebot des Anlegerschutzes. Die Satzungsautonomie findet deswegen hierin ihre Grenzen und ein Ausschluss des Widerspruchsrechts und hiermit der Anfechtungsbefugnis wäre unzulässig.

Vorteile für alle Seiten durch die Online-Teilnahme an der Hauptversammlung

Die elektronische Teilnahme an der Hauptversammlung kann mit sich auch Vorteile für die Aktionäre und für die Gesellschaften bringen. Insbesondere ausländischen Aktionären kommt diese Möglichkeit zugute, da sie Informationen einfacher abrufen und ihre Aktionärsrechte leichter ausüben können. Da ihre physische Teilnahme an der Hauptversammlung oftmals kostenintensiv ist, können die Auslands-Aktionäre durch die Online-Teilnahme hohe Anfahrt- und Unterkunftskosten sparen und gleichzeitig ihren ökologischen Fußabdruck reduzieren.

Nicht nur für die Aktionäre, sondern auch für die Gesellschaften entstehen hohe Kosten im Rahmen der Teilnahme, um eine Hauptversammlung zu organisieren, einzuberufen und abzuhalten. Die Möglichkeit der elektronischen Teilnahme kann auch hier den Kostenaufwand verringern. Dadurch können die Gesellschaften auch eine steigende Hauptversammlungspräsenz  erreichen. Allen Aktionären wird die Chance gegeben die Richtung der Gesellschaft mitzubestimmen, da bei geringer Hauptversammlungspräsenz eine kleine und nicht repräsentative Kapitalminderheit die Entscheidungen trifft, durch die die restlichen Aktionären gleichfalls betroffen sind.

Die Online-Teilnahme an der Hauptversammlung ist auf alle Formen der Aktiengesellschaft anwendbar, unabhängig davon, ob sie kapitalmarktorientiert oder nicht börsennotiert sind. Praktisch sinnvoll ist die aber für Hauptversammlungen mit großem Teilnehmerkreis. Insbesondere für Namensaktiengesellschaften bietet die virtuelle Teilnahme aufgrund der direkten Kommunikationsmöglichkeit mit den im Aktienregister eingetragenen Aktionären viele Vorteile. 

Aktuelle Lage in Deutschland und Europa

Art. 8 der Aktionärsrechte-Richtlinie musste von allen Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden, deswegen finden sich in den europäischen Rechtsordnungen ähnliche Regelungen wie in §118 Abs. 1 Satz 2 AktG. So wird in den Niederlanden keine rein virtuelle Hauptversammlung angeboten, gleich ist die Lage in Frankreich, wo die Übertragung der Hauptversammlung ohne Möglichkeit der Partizipation Standard ist. In Luxemburg dagegen ist die rein virtuelle Hauptversammlung ohne Ort der physischen Zusammenkunft zulässig. In Großbritannien wird zumeist eine hybride Hauptversammlung abgehalten, dennoch sehen die Satzungen einer Reihe von Unternehmen auch die Möglichkeit der rein virtuellen Hauptversammlung vor. So hat im Jahr 2016 eine High-End-Modekette als Pionier in Großbritannien die erste rein virtuelle Hauptversammlung durchgeführt.

In Deutschland haben der zusätzliche technische Aufwand und das erhöhte Risiko in Bezug auf die Rechtssicherheit der Beschlüsse viele Gesellschaften davon abgehalten, die Möglichkeit der Online-Teilnahme aktiv zu nutzen. Eine Auswertung aus der Hauptversammlungssaison 2016 der 30 DAX-Gesellschaften zeigt, dass es eine Online-Teilnahme nur bei zwei Gesellschaften gab, den Aktionären wurde aber nur eine Abstimmungsmöglichkeit ohne Fragerecht gewährleistet. Eine Online-Hauptversammlung, in welcher die Online-Teilnehmer uneingeschränkte Rechte wie die Präsenzteilnehmer ausüben konnten, hat in diesem Jahr keine der 30 DAX-Gesellschaften angeboten.

Fazit und zukünftige Aussichten

Obwohl die Online-Teilnahme an der Hauptversammlung viele Möglichkeiten für die Gesellschaften anbieten kann, ist es noch nicht zu einer digitalen Revolution bei den Gesellschaftsprozessen gekommen. Nur ein kleiner Teil der Gesellschaften nutzt diese Form der Beteiligung aktiv aus, viele bleiben wie vorher davon verunsichert. Der Deutsche Corporate Governance Kodex bietet dazu keine Hilfe, da er keine Empfehlung zugunsten einer Online-Teilnahme an der Hauptversammlung gibt. Er verlangt, dass die Gesellschaft den Aktionären schlicht die Verfolgung, nicht aber die Teilnahme an der Hauptversammlung über moderne Kommunikationsmittel ermöglichen soll. Auch das vor Kurzem in Kraft getretene ARUG II schafft keine Klarheit über die vielen offenen Fragen rund um die Online-Teilnahme an die Hauptversammlung.

Mit der Zeit würde sich vermutlich eine Best Practice im Markt entwickeln, die sich später auch als Kodex-Empfehlung niederschlagen könne. Bis dann bleibt jeder Gesellschaft die Frage überlassen, welchen Sinn und Zweck die Hauptversammlung für sie erfüllen soll und ob die Online-Teilnahme an der Hauptversammlung dabei Hilfe leisten kann.

 

[1] im amerikanischen Senat von Minderheiten geübte Praktik, durch Marathonreden Parlamentsbeschlüsse zu verzögern oder zu verhindern