Die „Flucht aus der Mitbestimmung“ stellt eine Möglichkeit dar, die Anwendung strenger Mitbestimmungsregeln in Unternehmensorganen zu vermeiden. Wird eine Gesellschaft in eine Societas Europaea (SE) umgewandelt, so wird der bestehende Zustand in Sachen Mitbestimmung „eingefroren“. Der BGH hatte nun letztinstanzlich darüber zu urteilen, ob bei der Umwandlung in eine SE auf die tatsächlich praktizierte Mitbestimmung („Ist-Zustand“) oder auf die rechtlich gebotene Mitbestimmung („Soll-Zustand“) abzustellen ist.

Zum Sachverhalt

Mit Beschluss der Hauptversammlung vom 02. Juni 2017 sollte die Deutsche Wohnen AG im Rahmen einer formwechselnden Umwandlung in eine SE umgewandelt werden. Der Aufsichtsrat der Beklagten ist nicht mit Vertretern der Arbeitnehmerschaft besetzt. Durch die Umwandlung in eine SE sollte dieser Zustand „eingefroren“ werden.

Kurz vor Eintragung der SE in das Handelsregister am 31. Juli 2017, also dem Zeitpunkt von dem an die AG aufgelöst und die SE gemäß § 202 UmwG begründet werden sollte, ging beim zuständigen Landgericht eine Klage auf Durchführung eines Statusverfahrens nach § 98 Abs. 2 AktG ein. In einem aktienrechtlichen Statusverfahren prüft das jeweils zuständige Landgericht, ob der Aufsichtsrat unter den Aspekten der Mitbestimmung richtig zusammengesetzt ist. Nach Ansicht des Klägers hätte der Aufsichtsrat der AG richtigerweise zur Hälfte oder zumindest zu einem Drittel mit Arbeitnehmervertretern besetzt werden müssen. Die genaue Zusammensetzung hängt davon ab, welche Mitbestimmungsvorschrift einschlägig ist. In Frage kommen die Vorschriften des Drittelbeteiligungsgesetzes und des Mitbestimmungsgesetzes.

Vorinstanzen

Das Landgericht Frankfurt a.M. hat den Antrag zurückgewiesen, das Oberlandesgericht Frankfurt a.M. der Beschwerde stattgegeben.

Das Landgericht hat den „Ist-Zustand“ als maßgeblich erachtet. Es komme nicht auf die abstrakte Rechtslage, sondern auf die tatsächlich praktizierte Ausübung der Mitbestimmungsvorschriften an. Dafür sprechen der Wortlaut des § 35 Abs. 1 SEBG und der Erwägungsgrund Nr. 18 der SE-Richtlinie. Dort wird jeweils von dem „Erhalt der Regelung zur Mitbestimmung, die in der Gesellschaft vor der Umwandlung bestanden hat“ sowie von der „Sicherung erworbener Rechte“ gesprochen. Damit ist der „status quo“ gemeint. Folglich sei auf den „Ist-Zustand“ abzustellen. Dies ergibt sich auch aus dem Kontinuitätsprinzip, wonach der Aufsichtsrat solange als rechtmäßig besetzt gilt, bis durch ein Statusverfahren etwas Abweichendes festgestellt wird.

Das Oberlandesgericht hingegen urteilte, dass auf den gebotenen Soll-Zustand abzustellen sei. Dies ergebe sich ebenfalls aus Erwägungsgrund Nr. 18 der SE-Richtlinie, wonach die Mitbestimmungsrechte geschützt und einer „Flucht aus der Mitbestimmung“ ein Riegel vorgeschoben werden soll. Ferner entspricht diese Auslegung dem Gedanken des „Vorher-Nachher-Prinzips“, welches in § 1 Abs. 1 S. 2 SEBG in Verbindung mit § 35 Abs. 1 SEBG normiert ist. Demnach bleibt der Umfang der Mitbestimmung erhalten, der vor der Umwandlung in der AG bestand. Dazu zählen nach Ansicht des OLG auch Mitbestimmungsrechte, die bewusst oder unerkannt nicht wahrgenommen wurden.

Das BGH-Urteil v. 23.7.2019

Der BGH hat die äußerst umstrittene Frage, ob bei Anwendung des Vorher-Nachher-Prinzips auf den „Ist-Zustand“ oder auf den „Soll-Zustand“ abzustellen ist, ausdrücklich offen gelassen.

Er stellt zunächst fest, dass alleinig das SE-Beteiligungsgesetz (SEBG) Anwendung findet. Mangels Vereinbarung über die Mitbestimmung im Unternehmen greifen die Vorschriften über die Mitbestimmung kraft Gesetzes gemäß §§ 34 ff. SEBG. Streitig war die Auslegung des § 34 Abs. 1 Nr. 1 SEBG, der eine Mitbestimmung in der Gesellschaft vor Umwandlung in eine SE als Anknüpfungspunkt für die Mitbestimmung kraft Gesetzes vorsieht. Dabei stellt der BGH die im Wesentlichen genannten Argumente gegenüber, schließt sich jedoch keiner Meinung an.

Denn durch die Beantragung eines Statusverfahrens nach § 98 Abs. 2 AktG vor Umwandlung in eine SE wurde der „Ist-Zustand“ maßgeblich mitgeprägt. Im Rahmen des anhängigen Statusverfahrens würde dann geklärt werden, wie der Aufsichtsrat richtigerweise zusammenzusetzen ist. Das Statusverfahren hebt daher die Verbindlichkeit der bisher praktizierten Mitbestimmung auf. Somit eröffnet sich eine Korrekturmöglichkeit, die auch auf das Mitbestimmungsstatut der SE ausstrahlt.

Bewertung des Urteils

Die erhoffte endgültige Entscheidung ist ausgeblieben. Der BGH erkennt zwar die Problematik der „Flucht aus der Mitbestimmung“, äußert sich jedoch nicht zu der kontrovers diskutierten Frage ob der „Ist-Zustand“ oder „Soll-Zustand“ maßgeblich sei. Dennoch können aus dem Urteil Rückschlüsse gezogen werden.

So legt der BGH durch die Einführung der neuen Kategorie des „modifizierten Ist-Zustands“ den Umkehrschluss nahe, dass auf die tatsächlich praktizierte Mitbestimmung abzustellen ist. Andernfalls hätte der BGH auch schlicht auf den gesetzlichen „Soll-Zustand“ verweisen können und keine neue Kategorie konzipieren müssen. Diese Vermeidungshaltung eben nicht auf den „Soll-Zustand“ zurückzugreifen sehen einige Stimmen als Argument für das Abstellen auf die tatsächlich praktizierte Mitbestimmung, mithin dem „Ist-Zustand“.

Der BGH stellt jedoch klar, dass die Sicherung erworbener Rechte der Arbeitnehmer über ihre Beteiligung an Unternehmensentscheidungen fundamentaler Grundsatz und erklärtes Ziel der Richtlinie sind. Er führt ferner aus, dass bei formwechselnder Gründung das Vorher-Nachher-Prinzip besonders streng ausgestaltet ist, um eine „Flucht aus der Mitbestimmung“ möglichst zu unterbinden. Dies darf aber nicht als obiter dictum interpretiert werden. Hingegen kann angenommen werden, dass in Ermangelung einer der Vorinstanz stark widersprechenden Äußerung der BGH der Rechtsauffassung des OLG Frankfurt a. M. folgt. Demnach sprechen auch gute Gründe für das Abstellen auf den „Soll-Zustand“.

Praxishinweis

Die bestehende Rechtsunsicherheit wurde durch das Urteil nicht beseitigt. Es hilft jedoch, sich den Regelungsbereich vor Augen zu führen.

Dieses Urteil findet nur Anwendung bei den bereits eingeleitetem Statusverfahren vor formwechselnder Umwandlung. Zur Vermeidung etwaiger Rechtsunsicherheit bei Gründung einer SE ohne bereits eingeleitetem Statusverfahren kann auf eine Umwandlung durch grenzüberschreitende Verschmelzung zur Umgehung der Rechtsfolgen des §§ 34 ff. SEBG zurückgegriffen werden. Dazu kann sich einer ausländischen Vorratsgesellschaft bedient wird. Bei der grenzüberschreitenden Verschmelzung gelten die strengen Vorschriften des „Vorher-Nachher-Prinzips“ und ermöglichen zumindest eine Vermeidung der Mitbestimmungsregeln kraft gesetzlicher Auffangregelung aus § 35 Abs. 1 SEBG.