Um die Mitbestimmung in Unternehmensorganen zu vermeiden, war die sogenannte „Flucht in die Societas Europaea (SE)“ eine oft genutzte Chance für wachsende Unternehmen, wie der Online-Versand-Riese Zalando SE. Der Aufsichtsrat der einstigen AG setzte sich nicht, wie vorgesehen paritätisch zusammen. Und noch bevor sich die Arbeitnehmer dagegen rechtlich wehren konnten, flüchtete Zalando in die Rechtsformumwandlung der SE, um so der AN-Mitbestimmung zu entgehen.

Diese Möglichkeit gilt zwar auch weiterhin, allerdings dürfte es nach der Entscheidung des OLG Frankfurt a. M. unter Umständen neue Wege geben, die die bisherigen Regeln der Mitbestimmung einschränkt

Unternehmensmitbestimmung in einer AG

Die Unternehmensmitbestimmung in Deutschland findet im Aufsichtsrat einer Gesellschaft statt. Arbeitnehmer haben Zugang zu diesem durch zwei bestimmte Gesetze, dem Drittbeteiligungsgesetz (DrittelbG) sowie das Mitbestimmungsgesetz (MitbestG). Sobald mehr als 500 Arbeitnehmer im Unternehmen beschäftigt sind, ist der Aufsichtsrat mit 1/3 AN-Vertreter zu besetzen (§1 Abs. 1 Nr.1 DrittelbG). Bei mehr als 2000 Arbeitnehmern im Unternehmen müssen 50% der vorhandenen Sitze mit Arbeitnehmer-Vertretern besetzt sein (§1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG).

 

Die Societas Europaea (SE)

Die SE (kurz für Societas Europaea) ist eine europäische Rechtsform. Sie wurde 2004 durch eine EU-Verordnung (SE-VO) ins Leben gerufen und wird seitdem immer beliebter. Sie ist Ausdruck der Vereinheitlichungsbemühungen im europäischen Gesellschaftsrecht, trotzdem aber auch weiterhin stark durch das jeweilige nationale Recht geprägt. Eine bisher nationale Rechtsform kann zum Beispiel unter bestimmten Voraussetzungen umgewandelt werden.

Die Gründung einer SE durch Umwandlung einer Aktiengesellschaft (AG) ist eine der häufigsten Anwendungsfälle für die SE-Gründung. Bei der SE-Gründung muss ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren durchgeführt werden. In diesem soll die Mitbestimmung in der zukünftigen SE nach dem Leitbild des europäischen und nationalen Normgebers durch ein Gremium der Arbeitnehmer und die Leitung des Unternehmens ausgehandelt werden.

Beide Parteien sind weitgehend frei von inhaltlichen Vorgaben. Die wichtigste Ausnahme davon ist § 21 Abs. 6 SEBG, wonach die Parteien in der Beteiligungsvereinbarung bei der SE-Gründung durch Umwandlung das zuvor bestehende Ausmaß an Mitbestimmung nicht unterschreiten dürfen. Für den Fall, dass die Verhandlungen über eine Beteiligungsvereinbarung scheitern, bleiben die zuvor geltenden Regelungen in der AG zur Unternehmensmitbestimmung erhalten.

 

Vorher-Nachher-Prinzip bei der SE-Mitbestimmung

§ 35 Abs. 1 SEBG bestimmt, dass sofern die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Nr. 1 SEBG (Gründung einer SE durch Umwandlung) vorliegen, die Regelung zur Mitbestimmung erhalten bleibt, die in der Gesellschaft vor der Umwandlung bestanden hat. War ein Unternehmen also vor der Umwandlung mitbestimmungsfrei, konnte dieser Zustand durch die Umwandlung in die SE eingefroren und eine künftige Mitbestimmung vermieden werden. Das bedeutet,  ein nicht ausgeübtes Mitbestimmungsrecht in der AG kann nach der Umwandlung nicht mehr geltend gemacht werden.

 

Streitig ist: Bleibt die rechtswidrige Zusammensetzung des Aufsichtsrats nach der Umwandlung erhalten?

 In der Praxis weichen die tatsächlichen Verhältnisse über die Mitbestimmung im Aufsichtsrat häufiger von der objektiven Rechtslage ab. Solche Diskrepanzen können durch schlichtes Verkennen des Vorliegens der Schwellenwerte von DrittelbG und MitbestG oder durch bewusstes Unterlassen der entsprechenden Maßnahmen durch die Unternehmensleitung und bewusste oder unbewusste ausbleibende Durchsetzung seitens der Arbeitnehmer entstehen.

Die Frage ist nun, ob es für die Mitbestimmung in der neu gegründeten SE auf die tatsächlich praktizierte Mitbestimmung (Ist-Zustand), somit beispielsweise auch ein rechtswidrig ohne Arbeitnehmervertreter besetzter Aufsichtsrat, durch die Umwandlung in die SE bestehen bleibt oder auf die objektive Rechtslage zur Mitbestimmung (Soll-Zustand) in der vorherigen AG ankommt.

 

Statusverfahren nach Umwandlung einer AG in eine SE

Mit dem OLG Frankfurt a. M. (Entscheidung v. 27. August 2018 – 21 W 29/18) hat nun erstmals ein zweitinstanzliches Gericht zu dieser Frage Stellung nehmen können.

Im zu entscheidenden Sachverhalt durchlief die A-Gesellschaft durch Eintragung des Umwandlungsbeschlusse am 31. Juli 2017 eine formwechselnde Umwandlung von einer AG in eine SE. Der Aufsichtsrat bestand in der AG nur aus Vertretern der Anteilseigner. Bei der A-Gesellschaft waren zu diesem Zeitpunkt 205 Arbeitnehmer, im gesamten Konzern insgesamt 1.046 Arbeitnehmer tätig. Zudem waren bei einer weiteren Gesellschaft ca. 1.300 Arbeitnehmer beschäftigt, wobei ungeklärt war, inwieweit diese Gesellschaft dem Konzern zugerechnet werden musste. Mit dem Statusverfahren wurde von einem Aktionär der Gesellschaft die gerichtliche Feststellung beantragt, dass der Aufsichtsrat zur Hälfte oder zumindest zu einem Drittel, je nach dem ob die Gesellschaft hinzugerechnet werden muss, auch mit Arbeitnehmervertretern besetzt werden müsse.

 

Erste Instanz: LG Frankfurt a.M. verweist auf Ist-Zustand und weist Verfahren ab

Das angerufene LG Frankfurt a. M. hatte diesen Antrag zurückgewiesen und verwies darauf, dass der Aufsichtsrat nicht nach den Regeln des Mitbestimmungsrechts, sondern allein nach dem SEBG zu bilden sei. Demnach kämen bei einer Umwandlung in eine SE ohne eine anderslautende Vereinbarung nach § 35 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 34 Abs. 1 Nr. 1 SEBG die Regelungen zur Mitbestimmung zur Anwendung, die vor der Umwandlung galten. Da das LG aber allein die tatsächlich praktizierte Handhabung – im vorliegenden Fall also die ggf. rechtswidrige Besetzung des Aufsichtsrats ohne Vertreter der Arbeitnehmer – und nicht etwa die abstrakte Rechtslage für maßgeblich hielt, verneinte es im Ergebnis die Anwendung des Mitbestimmungsrechts. Gegen diese Feststellung wehrte sich der Aktionär mit einer Beschwerde, die schließlich vom Oberlandesgericht entschieden wurde.

 

Zweite Instanz OLG Frankfurt a.M.: Allein der rechtmäßige Soll-Zustand maßgeblich!

Anders als das LG hielt das OLG allerdings im Kontext von § 35 SEBG nicht den tatsächlichen Ist-, sondern vielmehr den rechtlichen Soll-Zustand für entscheidend. Dafür sprächen vor allem Sinn und Zweck von § 35 SEBG, der die vor der Umwandlung erworbenen Rechte von Arbeitnehmern auf Beteiligung an Unternehmensentscheidungen sichern soll. Zu diesen Rechten gehöre, so das

OLG, auch das Recht, einen Zustand wie die unrechtmäßige Zusammensetzung des Aufsichtsrats über das gerichtliche Statusverfahren nach § 99 AktG. Dem Kontinuitätsprinzip, welches die Zusammensetzung des Aufsichtrsates auch nach der Umwandlung kontinuierlich aufrecht hält,  werde auch bei der SE dadurch Rechnung getragen, dass die geänderte Zusammensetzung des Aufsichtsrats erst mit Abschluss des Statusverfahrens zum Tragen komme.

Das OLG Frankfurt hat sich in einem Beschluss (v. 27. August 2018 -21 W 29/18) gegen die bisher zu der Thematik einer SE-Gründung durch Umwandlung einer Aktiengesellschaft ergangenen Entscheidung des LG Frankfurt (Beschluss v. 23. November 2017 – 3-05 O 63/17) und des LG München I (Beschluss v. 26. Juni 2018 – 38 O 63/17), welches in einem ähnlichen Fall ebenfalls auf den Ist-Zustand plädierte, gestellt. Auch der Erwägungsgrund Nr. 18 der SE-RL verlangt, dass Rechte der Arbeitnehmer bei der SE-Gründung nicht verloren gehen dürfen.

Das spricht für die Auslegung, dass auf den rechtlichen Soll-Zustand abzustellen ist.

Fazit

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Das OLG Frankfurt a.M. hat die Rechtsbeschwerde zum BGH zugelassen, sodass die weitere Entwicklung abzuwarten bleibt. Für die Praxis bedeutet die Entscheidung, dass vor Umwandlung in eine SE eine sorgfältige Bestimmung des geltenden Mitbestimmungsstatus unerlässlich ist, um nach Umwandlung in eine SE keine böse Überraschung zu erleben.

Sollte die höchstrichterliche Entscheidung ebenfalls auf den rechtlichen Sol-Zustand abzielen, wird die Möglichkeit, die einem das AktG gibt eingedämmt.

Die fehlende oder nicht korrekt zusammengesetzte Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat kann jederzeit im Zuge eines Statusverfahrens gerügt werden. Diese Möglichkeit besteht auch noch nach der Umwandlung. Die Arbeitnehmer stehen also nach der Umwandlung einer AG in die SE nicht schlechter dar als vorher.