Unsere heutige Wirtschaft ist geprägt von Massengeschäften. Verstößt ein Unternehmen dabei gegen das Gesetz, schädigt dies in der Folge nicht nur einen, sondern eine Vielzahl von Verbrauchern. Diese Situation begründet ein Machtungleichgewicht, die Leidtragenden fühlen sich oft in die Enge getrieben und unterlegen – So auch im allgegenwärtigen Abgasskandal. Ein derart massenhafter Schaden verlangt nach einer kollektiven Lösung. Wie reagieren Politik und Gesetzgeber darauf? Welche Vor- und Nachteile ergeben sich gegenüber den bisherigen Möglichkeiten?

Ausgangslage

Im Jahr 2015 schlug der Abgasskandal auch in Deutschland hohe Wellen – eine Vielzahl namhafter Autohersteller manipulierten ihre Dieselfahrzeuge so, dass diese im Testmodus deutlich niedrigere Schadstoff-Werte anzeigten, als im gewöhnlichen Straßenverkehr. Die Folgen für betroffene Verbraucher – und nicht zuletzt für die Umwelt – sind verheerend. Die Geschädigten kämpfen seither mit Wertverlust, Fahrverboten und unzähligen weiteren Negativkonsequenzen. Ihnen stehen somit Schadensersatzansprüche gegen die entsprechenden Hersteller zu. Insbesondere der Automobilkonzern VW geriet wegen der auffällig folgenschweren und weitreichende Schädigung betroffener Verbraucher in den Fokus.

Die Masse der Betroffenen macht den Skandal besonders missliebig. Müssten diese individuell für ihre Rechte und Ansprüche gegen die Autohersteller einstehen, wären die zuständigen Gerichte schlichtweg überfordert. Besonders auf Seiten der Verbraucherschutzverbände wurden daher Stimmen laut, die ein Instrument zur vereinfachten Anspruchsdurchsetzung forderten. Politik und Gesetzgeber reagierten darauf mit dem Gesetzentwurf zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage. Am 01. November 2018 wurde die lang diskutierte Klage schließlich eingeführt. Mit ihr erleben die Verbraucherrechte in Deutschland eine massive Stärkung.

Verfahrensablauf

Im Rahmen des Musterfeststellungsverfahrens wird zunächst festgestellt, ob bestimmte anspruchsbegründende Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, sprich ob den Klägern etwa ein Schadenersatz dem Grunde nach zusteht. Vorliegend soll also insbesondere geklärt werden, ob den Betroffenen durch die Manipulation der Motoren ein Schaden entstanden ist. Die Musterfeststellungsklage ist eine Verbandsklage. Nach § 606 ZPO darf sie nur von qualifizierten Einrichtungen erhoben werden. Diese agieren als Stellvertreter der betroffenen Verbraucher und machen so ihre Rechte für sie geltend. Durch strenge Voraussetzungen und Auflagen, welche insbesondere Verbraucherschutzverbände erfüllen müssen, soll einer Klageindustrie nach US-amerikanischem Beispiel entgegengewirkt werden.

Um stellvertretend für die Geschädigten klagen zu können, muss eine solche qualifizierte Einrichtung darlegen können, dass mindestens zehn Verbraucher von demselben Sachverhalt betroffen sind. Fällt die Prüfung durch ein Gericht positiv aus, erscheint die Klage in einem öffentlichen Klageregister. Zuständig ist dabei das Oberlandesgericht am Sitz des Beklagten – Klagen gegen VW gehen demnach an das OLG Braunschweig. Es müssen sich mindestens 50 weitere Verbraucher finden, die sich der Klage anschließen. Erst dann wird sie vor Gericht behandelt. Grundsätzlich können sich die Betroffenen selbst und ohne anwaltliche Unterstützung zur Klage anmelden.

Das Verfahren endet entweder durch Urteil oder durch einen Vergleich. Ergeht ein Urteil, müssen die Betroffenen im Anschluss ein individuelles Einzelverfahren anstreben, um ihre Schadensersatzansprüche durchzusetzen. VW tendierte zumindest in den vergangenen Einzelverfahren dazu, Vergleiche zu schließen. Zum einen, um die Kosten so gering wie möglich zu halten. Zum anderen baut der Autohersteller gerne Verschwiegenheitserklärungen in besagte Vergleiche ein, um der großen mediale Aufmerksamkeit entgegenzuwirken. Vergleiche bedürfen dabei einer gerichtlichen Genehmigung. Erfolgt diese, so geht der Vergleich den angemeldeten Verbrauchern zu und bietet ihnen die Möglichkeit, aus dem Vergleich auszutreten. Machen weniger als 30% der Betroffenen von dieser Möglichkeit Gebrauch, kommt der Vergleich tatsächlich zustande.

Vor- und Nachteile der Musterfeststellungsklage

Vergleicht man das Musterfeststellungsverfahren mit der Einzelklage, lassen sich Vor- und Nachteile ausmachen. Im Folgenden soll ein Blick auf diese geworfen werden.

Vorteile

Der zentrale Vorteil der Musterfeststellungsklage ist die Hemmung der Anspruchsverjährung. Hier greift die sogenannte regelmäßige Verjährungsfrist nach § 195 BGB. Sie beträgt drei Jahre und beginnt gemäß § 199 BGB mit dem Abschluss des Jahres zu laufen, in welchem der Anspruch entstand und der Betroffene von den anspruchsbegründenden Umständen erfuhr. Dies spielte 2018 besonders für Klagen gegen den Automobilhersteller VW eine große Rolle. VW musste sich in Deutschland als erster Autokonzern im Abgasskandal verantworten. Geschädigte erfuhren hierzulande im Jahre 2015 von ihrer Betroffenheit. Die Verjährungsfrist für Ansprüche gegen den VW-Konzern begann somit am 31. Dezember 2015 und endete mit Ablauf des 31. Dezember 2018. Durch die Anmeldung zur Musterfeststellungsklage konnten sich die Betroffenen vor der drohenden Verjährung schützen. Die Einführung der Klage kam demnach kurz vor knapp.

Weiter stellt die Musterfeststellungsklage eine kostenlose Klagemöglichkeit dar. Bisher machten die Betroffenen ihre Ansprüche ausschließlich im Wege der Einzelklage geltend. Im Falle einer Niederlage blieben diese auf hohen Anwalts- und Prozesskosten sitzen. Bei der Musterfeststellungsklage tragen jedoch die klagenden Verbraucherschutzverbände das Kostenrisiko. Verbraucher müssen somit keine hohen Aufwendungen befürchten und sind tendenziell eher dazu geneigt, für ihre Rechte einzustehen.

Auch die Bindungswirkung des Urteils ist von Vorteil. Ergeht ein Urteil gegen den Autohersteller, ist dieses laut § 613 ZPO bindend. So muss im anschließenden Folgeprozess zwar noch die explizite Höhe des entsprechenden Anspruchs erstritten werden, das Musterfeststellungsurteil ist jedoch bindend. Das Bestehen von anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmalen wird nunmehr vorausgesetzt.

Zudem ist der mediale Druck auf die beklagten Konzerne als positiv zu werten. Ein Urteil zu Gunsten der Beklagten wird immer unwahrscheinlicher.

Nachteile

Zwar ist es mittlerweile sehr unwahrscheinlich, dass ein Musterverfahren zu Ungunsten der Kläger ausgeht. Sollte dies jedoch der Fall sein, würde sich auch bei einem negativen Urteil die Bindungswirkung entfalten. Betroffene Verbraucher könnten im Anschluss keinen Einzelprozess mehr anstreben, da kein Anspruch bestünde.

In der Kritik steht die Musterfeststellungsklage auch, weil sie lediglich von Verbrauchern, nicht jedoch von kleinen und mittleren Unternehmen in Anspruch genommen werden kann.

Weiter führt ein positives Urteil noch nicht zu einer Auszahlung, da das Urteil noch nicht zu einer Leistung verpflichtet. Somit kann die Auszahlung erst nach Abschluss des anschließenden individuellen Verfahrens erfolgen, da erst in diesem die genaue Anspruchshöhe festgelegt wird.

Im Artikel „Einer für alle gegen Goliath – die neue Musterfeststellungsklage als Instrument kollektiven Rechtsschutzes“ wird schön dargelegt, dass der Weg der Musterfeststellungsklage mit anschließendem Individualverfahren sehr langwierig sein kann. Alternativ wird auf die Möglichkeit verwiesen, nach ergangenem Feststellungsurteil einen Vergleich mit dem beklagten Unternehmen zu schließen. Dies kann jedoch zusätzliche Negativkonsequenzen mit sich ziehen. Vergleiche führen zwar zu einer schnelleren Auszahlung, diese fällt jedoch in aller Regel geringer als der eigentliche Schadensersatzanspruch aus.

Abgrenzung zur Sammelklage

Verfolgt man die Abgas-Thematik in den Medien, so werden die Bezeichnungen „Musterfeststellungsklage“ und „Sammelklage“ oft synonym verwendet. Hier ist Obacht geboten, denn die feinen aber ausschlaggebenden Unterschiede liegen im Detail.

Den Begriff „Sammelklage“ verbindet man insbesondere mit dem Rechtssystem der USA. Dort verschafft sie neben dem Kläger auch jeder weiteren Person Ansprüche, welche von demselben Sachverhalt in der selben Weise betroffen ist. Eine aktive Beteiligung an der Klage ist dabei nicht notwendig. Das Kostenrisiko wird dabei zwar von der Klägerkanzlei getragen, diese lässt sich jedoch für gewöhnlich ein hohes Erfolgshonorar von der klagenden Partei auszahlen. Sammelklagen begründen in den USA eine regelrechte Klageindustrie.

Der deutsche Gesetzgeber kennt eine solche Klageart nicht. Hierzulande gilt der Grundsatz, dass der entsprechende Anspruchsberechtigte seine individuelle Betroffenheit, einen konkreten Schaden und den Kausalzusammenhang zwischen dem ihm entstandenen Schaden und der Betroffenheit darlegen muss. Dennoch findet man im Rahmen des Abgasskandals eine Reihe von Plattformen, welche mit der Sammelklage werben. Dabei handelt es sich allerdings viel mehr um eine sogenannte Anspruchshäufung nach § 260 ZPO. Die Ansprüche werden an einen Kläger abgetreten und gebündelt geltend gemacht. Zwar sind klassische Erfolgsprovisionen im deutschen Rechtssystem verboten, hat die Klage Erfolg, lassen sich die klagenden Kanzleien in der Regel jedoch bis zu 35% der eingeklagten Summe auszahlen.

Fazit

Grundsätzlich ist es richtig und notwendig, den Leidtragenden im Abgasskandal ein unkompliziertes und kostenfreies Verfahren zur kollektiven Anspruchsdurchsetzung zu ermöglichen. Insbesondere Verbraucher ohne Rechtsschutzversicherung und mit geringen finanziellen Rücklagen scheuen das Kostenrisiko eines Einzelverfahrens und fühlen sich ohne eine Alternative schnell in die Enge getrieben. Zudem wären die Massen der Einzelklagen für Gerichte kaum zu bewältigen. Verbraucher würden jahrelang auf den Abschluss ihrer Verfahren bangen und müssten sich in der Zwischenzeit mit den zunehmenden Fahrverboten, mangelhaften Software-Updates und dem Wertverlust ihrer Vehikel herumschlagen. Dem ist klar Abhilfe zu schaffen. Politik und Gesetzgeber haben diesen Missstand erkannt und mit der Einführung einer entsprechenden Musterfeststellungsklage vollkommen richtig reagiert.