„Volkswagen soll in jeder Hinsicht an der Spitze stehen, auch in Sachen verantwortungsvoller Unternehmensführung. [E]inen Vorreiter kann man unsere Industrie und damit auch Volkswagen […] sehr wohl nennen: bei den Arbeitsbedingungen, beim verantwortlichen Umgang mit den Ressourcen unseres Planeten macht uns wohl niemand etwas vor.“ So äußerte sich der damalige VW- Vorstandsvorsitzende Martin Winterkorn in einem Interview mit der „Welt“ im März 2015 – 6 Monate später, am 22. September 2015, trat er von seinem Posten im Rahmen der Dieselaffäre zurück. Zum Zeitpunkt des Interviews war ihm der Verbau der verbotenen Software an Fahrzeugen seines Konzerns zur Manipulation der Abgaswerte bereits lange bekannt gewesen. Mehrfach wurde die Mitteilungspflicht des Konzerns an die Öffentlichkeit versäumt. Folge sind u.a. Schäden in Milliardenhöhe auf Anlegerseite. Welche Folgen hat so ein rücksichtsloses Handeln der Konzerne, speziell am Beispiel VW, für Aktionäre und welche Möglichkeiten bleiben diesen, ihre Verluste zu auszugleichen?

Sachverhalt

Schon in einer aufgetauchten Email eines Audi-Ingenieurs an diverse Manager im Jahr 2007 hieß es, dass man die US-Grenzwerte für Stickoxide auf legale Weise für Dieselfahrzeuge nicht einhalten können werde. Er sollte Recht behalten. Zumindest entschloss man sich in dieser Zeit dazu, eine unter dem Namen „Defeat Device“ bekannte Software mit einer Abschalteinrichtung in die Dieselfahrzeuge mit dem Motor-Typ EA 189 einzubauen, die eine Manipulation der Abgaswerte ermöglichte. Betroffen sind seitens Volkswagen ca. 11 Millionen Fahrzeuge weltweit. Vor dem öffentlichen Eingeständnis seitens Martin Winterkorn am 20. September 2015 sind seit Entscheidung zur Verwendung der Software und deren tatsächlicher Verwendung spätestens seit Juni 2008 sieben Jahre vergangen, in denen innerhalb der Volkswagen AG vor den Folgen und Konsequenzen für den Konzern gewarnt wurde, sowohl von eigenen Mitarbeitern, als auch vom Softwareentwickler Bosch. Seit Mitte 2008 bis Mitte 2014 ergingen 12 Ad-Hoc-Mitteilungen, die die finanziellen Risiken aus dem Komplex Abgasmanipulationen verschwiegen, auch während bereits Ermittlungen amerikanischer Behörden bekannt waren.

Umso schwerwiegender waren die Folgen auf dem Aktienmarkt.

Auswirkungen auf dem Aktienmarkt

Die im DAX notierten Vorzugsaktien von VW verloren nach Bekanntwerden des Skandals am 20. September 2015 in der Spitze über 20 % ihres Wertes innerhalb des ersten Handelstages, ebenso die Stammaktien. Insgesamt ergab sich ein Minus der Marktkapitalisierung von 15,8 Mrd. €. Nachdem die Rückstellungen durch VW bekanntgegeben, eine Gewinnwarnung herausgegeben worden ist und das Eingeständnis gemacht wurde, dass die Software in 11 Mio. Fahrzeugen im Einsatz ist, sank der Kurs der VW-Vorzugsaktie innerhalb einer Stunde um 20%. Der Kursverlust summierte sich innerhalb von 2 Handelstagen auf 34,4 %. Gemessen am Xetra Schlusskurs um 17:45 betrug der Wert einer VW-Vorzugsaktie am 18. September 2015 noch 161,65 €, sank nach der Enthüllung am 22. September auf 106,00 € und lag am 5. Oktober 2015 schließlich nur noch bei 86,36 €.

Die Dieselaffäre brachte daher, neben geschädigten Händlern und Verbrauchern, auch geschädigte Anleger hervor, die im Zuge des Bekanntwerdens des Skandals erhebliche Einbußen durch Wertverluste hinnehmen mussten. Diese hätten unter Umständen durch einen verantwortungsvolleren Umgang seitens VW, vor allem dessen damaligen Vorstandsvorsitzenden Winterkorn, vermieden werden können. Bestehen daher Chancen für Aktionäre, Schäden ersetzt zu bekommen? Damit wird sich ab September 2018 das OLG Braunschweig in einem Musterverfahren beschäftigen müssen.

Das Musterverfahren

Bei dem Musterverfahren im Fall VW handelt es sich um ein sog. „komplexes“ Musterverfahren, dessen Gegenstand eine Vielzahl von Feststellungszielen sind, bei denen gleichermaßen anspruchsbegründende und anspruchsausschließende Feststellungen und die Klärung von Rechtsfragen erforderlich sind. In Ermangelung einer Sammelklage in Deutschland stellt dieses Verfahren eine kostengünstige Alternative zur eigenen Klage dar: Tatsachen und Rechtsfragen werden für eine Vielzahl von Fällen einheitlich durch das Gericht geklärt, was Anwalts- und Gerichtskosten reduziert.

Der Prozess nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMug) hat einen Musterentscheid zum Ziel, der für alle Beteiligten bindend ist. Als Musterkläger wurde die Deka Investment GmbH mit Beschluss vom 08.03.17 (3 Kap 1/16) durch den 3. Zivilsenat des OLG Braunschweig ausgewählt, dessen Fall verhandelt und entschieden wird. Bis zum 08.09.2017 war es für Anleger möglich, sich schriftlich über einen Rechtsanwalt zum Verfahren anzumelden. Knapp 2000 Anleger haben Forderungen angemeldet. Angesetzt war ein Beginn der Verhandlungen am 09.04.2018, welcher auf September 2018 verschoben wurde. Dies geschah auf Bitte von VW, um mehr Zeit für die Vorbereitung der Klagen zu bekommen. Parallel dazu gibt es ein Musterverfahren vor dem LG Stuttgart (Az. 22 AR 1/17 Kap.) gegen die Porsche Automobil Holding SE. Diese hält 52,2 % der Stimmrechte an der Volkswagen AG und wäre als Holdinggesellschaft u.U. verpflichtet gewesen, auch über Vorgänge bei der Volkswagen AG zu berichten, die die Aktienkurs beeinflussen können.

Ad-Hoc-Mitteilungen

Aktionäre der Volkswagen AG (Stamm- und Vorzugsaktien), teilweise als Aktionäre der Porsche Automobil Holding SE (Vorzugsaktien) und Erwerber von Anleihen der Volkswagen AG, bzw. ihrer Tochtergesellschaften, sowie Erwerber von Swaps machen gegen Volkswagen Ansprüche wegen unterlassener Ad-hoc-Mitteilung im Hinblick auf den sog. Abgasskandal und damit verbundener Strafforderungen US- amerikanischer Umweltbehörden geltend.

Nach § 15 I WpHG (§ 13 I WpHG a.F.) besteht für einen Emittenten (hier die Volkswagen AG, vertreten durch ihren Vorstand) eine unverzügliche Pflicht zur Veröffentlichung über jede neue Tatsache, die im seinem Tätigkeitsbereich eingetreten und nicht öffentlich bekannt ist, sofern sie wegen der Auswirkungen auf die Vermögens- und Finanzlage oder auf den allgemeinen Geschäftsverlauf des Emittenten geeignet ist, den Börsenpreis der zugelassenen Wertpapiere erheblich zu beeinflussen, oder im Fall zugelassener Schuldverschreibungen die Fähigkeit des Emittenten, seinen Verpflichtungen nachzukommen, beeinträchtigen kann (sog. kursbeeinflussende Tatsachen). Dabei handelt es sich um die sogenannte Ad-Hoc-Publizitätspflicht, welche nach Ansicht der Klägerseite von VW verletzt wurde, indem sie die Vorgänge um die Dieselaffäre zu spät bekannt machte. Viele Inhaber von Aktien haben diese aufgrund von Pensionsgeschäften vorübergehend übertragen oder auch verliehen, um etwa Kredite zu besichern, Meldepflichten zu vermeiden oder schlicht um die Rendite eines Wertpapierportfolios zu erhöhen, indem ein zusätzliches Darlehensentgelt vereinnahmt wird. Andere wiederum behaupten, wenn die Volkswagen AG ihrer Mitteilungspflicht nachgekommen wäre, dass sie entweder gar keine Finanzinstrumente erworben oder aber sie zu einem erheblich niedrigeren Einstandspreis erworben hätten.

Kapitalmarktrechtliche Informationshaftung

Für die Beanspruchung von Schadensersatz kommen für Anleger diverse Anspruchsgrundlagen in Betracht.

Zentrale Anspruchsgrundlagen für unterbliebene Ad-Hoc-Mitteilungen sind die §§ 37b, 37c WpHG. Nach § 37 b I Nr. 1 WpHG besteht ein Schadensersatzanspruch für Erwerber, wenn der Emittent es unterlässt, unverzüglich eine Insiderinformation zu veröffentlichen, die ihn unmittelbar betrifft und der Erwerber das Finanzinstrument nach der Unterlassung erwirbt. In Art. 7 I a) der EU- Marktmissbrauchsverordnung umfasst eine Insiderinformation „[…] nicht öffentlich bekannte präzise Informationen, die […] Emittenten oder […] Finanzinstrumente betreffen und die, wenn sie öffentlich bekannt würden, geeignet wären, den Kurs dieser Finanzinstrumente oder den Kurs damit verbundener derivativer Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen […]“. Als Insiderinformation kommt eine Reihe von Tatsachen und Geschehnissen innerhalb der Volkswagen AG in Betracht. Dabei reicht es von der Entscheidung zur Verwendung der Defeat Devices, der Erkenntnis, dass die zulässigen Grenzwerte in den USA mit zulässigen Mitteln nicht eingehalten werden können, der Warnung von Bosch vor der Verwendung der Software über die Abgaszertifizierungen mit wahrheitswidriger Versicherung, keine Abschalteinrichtungen verbaut zu haben, bis zum Einbau und Vertrieb der Fahrzeuge und den Ermittlungen amerikanischer Umweltschutzbehörden. Die Marktmissbrauchsverordnung zeigt allerdings auch eine Schutzlücke auf. Während diese sich auch auf Erwerber von Derivaten als Aktivlegitimierte bezieht, so erfassen die §§ 37b, 37c WpHG nach überwiegender Meinung von Rechtsprechung und Literatur wegen ihres engen Wortlauts gerade keine Erwerber von Derivaten auf VW-Aktien, sowie keine Aktionäre, die nicht von dem vermeintlich informationspflichtigen Emittenten, sondern von einem dritten Emittenten erworben haben, demnach die Aktionäre der Porsche Automobil Holding SE. Eine teilweise vertretene analoge Anwendung scheitert schon an dem Bestehen einer Regelungslücke. Daran wird deutlich, dass der Gesetzgeber es hier versäumt hat, die §§ 37b, 37c WpHG ausreichend mit der Marktmissbrauchsverordnung zu harmonisieren. Erwerber von Derivaten auf VW-Aktien, als auch die Erwerber von Porsche-Aktien müssen daher auf die übrigen Anspruchsgrundlagen zurückgreifen.

Als Auffangtatbestand für geschädigte Anleger, der allerdings sehr hohe Haftungsvoraussetzungen stellt und eine Reihe unbestimmter Rechtsbegriffe enthält, dient § 826 BGB für den Schadensersatz wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung. Anerkannt ist hier auch die Verwirklichung der Tatbestandsvoraussetzungen durch Unterlassen. Allerdings ist bisher noch keine Entscheidung ergangen, bei der einem Anleger nach § 826 BGB wegen unterlassener Ad-Hoc-Mitteilung Schadensersatz zugesprochen worden ist. Dies ist vermutlich auch auf die hohen tatbestandlichen Voraussetzungen zurückzuführen. Allein die Feststellung der Sittenwidrigkeit und deren Beweis dürfte Schwierigkeiten bereiten.

Vielversprechender sind dagegen die Schadensersatzansprüche wegen fehlerhafter Finanzberichterstattung gemäß § 823 II BGB i.V.m. § 37 v WpHG, bzw. § 37 w WpHG. Die beiden Schutzgesetze des WpHG schützen das individuelle Vertrauen des Anlegers in seinen Entscheidungsgrundlagen, gemeint sind hier der Jahres- und Halbjahresfinanzbericht der Volkswagen AG. Vorteil dieser beiden Anspruchsgrundlagen ihr geringer Verschuldensmaßstab, der eine einfache Fahrlässigkeit genügen lässt.

Darüber hinaus ist ein Schadensersatz aus § 823 II BGB i.V.m. § 331 Nr. 1 – 3 HGB, bzw. § 400 AktG möglich. Sie begründen die Haftung des Emittenten für Verstöße seiner Organmitglieder, § 31 HGB analog. Dabei ist § 400 AktG subsidiär zu § 331 HGB. Die beiden Straftatbestände erfassen die falsche oder verschleiernde Wiedergabe der Verhältnisse einer Kapitalgesellschaft, insbesondere in Übersichten über den Vermögensstand (§ 400 AktG) oder im Jahresabschluss (§ 331 HGB).

Offene Fragen

Problematisch ist vor allem die Eignung einer Tatsache zu einer erheblichen Kursbeeinflussung. Dies wirft im Musterverfahren diverse Fragen auf, welche durch das OLG Braunschweig im Musterverfahren geklärt werden müssen.

Was löste die Publizitätspflicht aus?  Der Zeitpunkt, als systematische Manipulationen bekannt wurden oder bereits der Moment der Nachforschungen amerikanischer Behörden?

Welche Aktionäre können Schadensersatz verlangen?  Die, die nach dem 3. September 2015 (als VW ggü. der amerikanischen Behörden die Manipulation eingestanden hat) Aktien gekauft haben, jeder Anleger, der zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Abgasmanipulation am 20. September 2015 durch den VW-Vorstand Inhaber einer Vorzugs- oder Stammaktie war oder alle Anleger, die zwischen dem 6. Juni 2008 und 17. September 2015 gekauft haben?

Unklar ist dabei der Zeitpunkt nach § 37b I 1 WpHG. Danach sind alle die anspruchsberechtigt, die nach dem Zeitpunkt gekauft haben, nach dem VW eine Ad-Hoc-Mitteilung hätte herausgeben müssen. Diese Anleger haben einen Kauf zu einem teuren, nicht marktgerechten Kurs getätigt. Als Zeitpunkt kommt dafür sowohl die Studie der West Virginia University von Mai 2014 in Betracht, bei der überhöhte Emissionswerte festgestellt und das Interesse der amerikanischen Behörden geweckt wurde, als auch die Information der Öffentlichkeit durch den VW -Vorstand am 20. September 2015 über die Manipulationssoftware und die Rückstellungen von 6,5 Mrd. €.

Wie hoch ist der Schadensersatz pro Aktie?  Nach Auskunft diverser Rechtsanwälte beträgt die Höhe pro Aktie mindestens 54 – 60 € beträgt. Im Musterverfahren wurde die Feststellung auf 59,50 € pro am 22. September gehaltener VW-Vorzugsaktie beantragt (LG BS, Beschluss vom 05.08.16 – Az. 5 OH 62/16, S.17). Sofern die Aktionäre nachweisen können, dass sie die Aktien nicht gekauft hätten, wenn sie vom Einbau der verbotenen Software oder von den Ermittlungen der amerikanischen Behörden gewusst hätten, wäre theoretisch auch eine vollständige Rückabwicklung möglich (BGH, Urteil v. 13.12.2011 – Az. XI ZR 51/19).

Verjährung der Ansprüche?  Sicher gehemmt ist die Verjährung der Ansprüche, wenn Aktionäre bis zum 19. September 2016 Klage beim LG Braunschweig eingereicht haben. Überwiegend wird allerdings die Ansicht vertreten, dass noch Zeit bis zum 31. Dezember 2018 bleibt. Grund für die Uneinigkeit ist die Änderung der Fristen im Kleinanlegerschutzgesetz. Mit Wirkung zum 10. Juli 2015 ist die ehemalige kurze Verjährungsfrist von einem Jahr aufgehoben worden und die regelmäßige Verjährung von drei Jahren an deren Stelle getreten. Eine ansonsten übliche Übergangsregelung fehlt, womit unklar ist, ob für Aktionäre, die vor dem 10. Juli 2015 erworben haben, die alte oder die neue Frist gilt. Nach Sinn und Zweck des Gesetzes gilt die 3-Jahre-Frist. Dieser Punkt ist dem OLG ebenfalls durch das LG zur Feststellung vorgelegt worden.

Chancen für Aktionäre

Aufgrund dieser ungeklärten Fragen bestehen grundsätzlich Chancen auf Schadenersatz für alle Aktionäre, die zwischen dem 06.06.2008 und dem 17.09.2015 gekauft haben. Betroffene Wertpapiere sind VW-Stammaktien, VW-Vorzugsaktien, VW-Anleihen, Derivate auf VW-Aktien (z.B. Optionsscheine, Zertifikate, Optionen) und Porsche-Aktien. In Betracht kommen sowohl der Ersatz von Kursdifferenz-, als auch Transaktionsschäden. Wie so oft wird der Schwerpunkt in der Beweisführung liegen, welcher sich bei Volkswagen allerdings nur noch am konkreten Zeitpunkt orientiert, zu dem die kursbeeinflussende Tatsache hätte bekannt gegeben werden müssen. Durch das öffentliche Eingeständnis Winterkorns ist die Tatsache, dass eine Mitteilung vorher hätte rausgegeben werden müssen, relativ eindeutig. Geklärt werden muss, welches Ereignis (und welcher Zeitpunkt) die Publizitätspflicht konkret begründet hat. Davon hängt zugleich ab, welche Aktionäre einen Anspruch haben.

Alles in allem bestehen für Aktionäre gute Chancen auf Schadensersatz. Trotz mangelnder Harmonisierung der Marktmissbrauchsverordnung mit den § 37b, § 37c WpHG sind auch für die Aktionäre, die sich nicht auf diese Anspruchsgrundlagen stützen können, mit den § 37 v, § 37 w WpHG gute Möglichkeiten geschaffen worden, ihre Schäden ersetzt zu bekommen. Zu hoffen bleibt, dass das Musterverfahren gegen VW nicht dieselben zeitlichen Dimensionen wie das gegen die Telekom erreicht, was aber angesichts der Ausmaße und der bisherigen Erfahrungen mit dem KapMuG, trotz der Neufassung 2012, zweifelhaft ist. Die bisherigen Erfahrungen sprechen dafür, dass das Musterverfahren keine zufriedenstellende Alternative für die amerikanische Sammelklage liefert.

Anlass zu Veränderungen

Als im September 2015 die Dieselaffäre öffentlich bekannt wurde, war man sich der Ausmaße noch nicht vollends bewusst. Volkswagen sollte nur die Spitze des Eisbergs sein – inzwischen sind neben Volkswagen, Audi, Skoda, Seat und Porsche auch Daimler, Renault, Peugeot, FiatChrysler, Mitsubishi, Mazda und General Motors/Opel betroffen. Auch gegen den letzten übrig gebliebenen deutschen Autobauer BMW wird seit Dezember 2017 ermittelt, ebenso wie gegen Mitarbeiter vom Zulieferer Bosch, der die fragliche Software an VW und Daimler geliefert hat.

Die Ausmaße an Geschädigten lassen sich nur erahnen. In 54 Ländern weltweit wurden Klagen allein gegen Volkswagen eingereicht. Allein im Musterverfahren vor dem OLG Braunschweig geht es um einen Streitwert in Höhe von 9 Mrd. €. Gegen mehrere Unternehmen laufen Sammelklagen in den USA. Diese Tatsache lässt nicht zum ersten Mal den Ruf nach kollektiven Rechtsschutz in Deutschland laut werden. Was in den USA in Form der Sammelklage abgewickelt wird, ist in Deutschland bisher nicht vergleichbar möglich. Es bestehen nur einzelne Ausnahmen für einen kollektiven Rechtsschutz im Wettbewerbs-, Kapitalanlage- und Musterrecht. Im Zuge von 17.000 Klagen von Aktionären gegen die Deutsche Telekom wurde 2005 das KapMuG (mit dem nun auch im Fall VW anlaufenden Musterverfahren) eingeführt. Allerdings ist dieses erheblichen Bedenken ausgesetzt. Im Fall Telekom wurde die erste Klage 2001 eingereicht. Mit der Einführung des KapMuG sollte der Klageflut entgegengetreten werden – allerdings ohne Erfolg. Das Verfahren dauert bis heute an. Im Vergleich dazu wurde derselbe Fall in den USA bereits 2005 mit einem Vergleich abgeschlossen. Das zentrale Problem der deutschen Rechtsordnung liegt nach wie vor in der Handhabung von gleichgelagerten Schadensfällen oder Massenschadensfällen, die zu einer Überlastung der Gerichte führen. Kollektivklagen sind seit 1985 ein Thema der EU, auch die Bundesregierung sprach sich nach Bekanntwerden der Dieselaffäre 2015 relativ schnell für Handlungsbedarf in dieser Hinsicht aus. Passiert ist bis heute nichts, weder EU-, noch deutschlandweit. Gerade Deutschland hinkt im EU-weiten Vergleich hinterher, begründet in dem starken Lobbyeinfluss in der Industrie und deren Sorge vor einer Einführung eines Sammelklagemodells wie in den USA. Eine Lösung in Deutschland ist, obwohl dies auch im Fall VW wieder deutlich wird, dringend notwendig, allerdings nicht so schnell zu erwarten.

Ursachenforschung

Möglich gemacht wurde der Skandal bei VW unter Umständen erst durch die mächtige Führungsriege unter Winterkorn/Piëch, durch die innerhalb des Unternehmens über Jahre eine militärische Führungskultur etabliert wurde, bei der Mitarbeiter gehorsam Folge leisten und konstruktive Kritik gar nicht erst zugelassen, bzw. erfolgreich unterdrückt wird. Winterkorns harte Hand und sein Kontrollzwang wurden sogar von seinem Nachfolger Matthias Müller als „legendär“ bezeichnet. Müller trat drei Tage nach Winterkorns Rücktritt dessen Stelle als Vorstandsvorsitzenden an und versprach einen Wandel in der Unternehmenskultur mit Offenheit und Transparenz, sowohl innerhalb des Konzerns, als auch nach außen. Ob dieser Wandel tatsächlich stattfindet oder es schlicht um einer notwendige Maßnahme infolge des Skandals handelt, bleibt abzuwarten. Gerade nach innen ist jahrelanger Drill nicht so einfach aus den Köpfen der Mitarbeiter herauszubekommen. Fraglich ist, wie viel Macht jemandem ohne Konsequenzen zugestanden werden darf. Kann diese einem tatsächlich zu Kopf steigen und dann zu Rücklosigkeit und Wachstum um jeden Preis führen?

Im vorliegenden Fall hält die Mehrheit der stimmberechtigten VW-Stammaktien die Porsche Automobil Holding SE, deren Stammaktien sich wiederum allein in Händen von Mitgliedern der Familien Porsche und Piëch befinden. Weitere 20 % sind in Händen des Landes Niedersachsen. Eine Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat ist damit höchst wahrscheinlich.

Ausblick

Im Übrigen stellt der Dieselskandal ein Exempel für die Unternehmenskultur weltweit dar. Er wirft Fragen auf, wie weit das Streben nach Wachstum eines Konzerns gehen darf und inwiefern die Verantwortlichen für die Schädigung vieler Einzelner zur Rechenschaft gezogen werden können. In Amerika sind bereits zwei ehemalige VW-Mitarbeiter zu Haft- und Geldstrafen verurteilt worden, was in Deutschland durch ein fehlendes eigenes Unternehmensstrafrecht nicht vergleichbar möglich wäre.

Schon durch den 2006 in Deutschland bekanntgewordenen Korruptionsskandal bei Siemens hatte eine Wende stattgefunden: Unternehmen haben daraus gelernt, es geht in der Wirtschaft seitdem tendenziell transparenter und regelkonformer zu als früher. Der Fall VW zeigt, das selbst große Unternehmen und vor allem deren Vorstände sich nicht auf ihre überlegene Markt- und Machtposition und ihren Erfolg verlassen dürfen. Um gegen solche Fälle von durch Unternehmen verursachte Milliardenschäden effektiv und präventiv vorzugehen, ist über die Schaffung eines eigenen Unternehmensstrafrechts erneut nachzudenken, ebenso wie über einen geeigneteren kollektiven Rechtsschutz in Deutschland. Denn in den meisten Fällen kommt früher oder später alles an die Öffentlichkeit und die große Anzahl von Geschädigten darf nicht zum Opfer ihrer Masse werden. Gerade große und erfolgreiche Unternehmen müssen dazu verpflichtet sein, für Fehler einzustehen und für ihr ungerechtfertigtes Handeln bestraft zu werden.

Im Idealfall bringt der Fall VW die Wirtschaft und das Recht in Deutschland einen Schritt weiter in die richtige Richtung.