Die weltweiten internationalen Investitionen erreichten 2015 ihren Höhepunkt mit einer Summe von 1,5 Billionen Dollar. Von diesem hohen Investitionsaufkommen profitieren insbesondere die Industriestaaten. Die Direktinvestitionen deutscher Unternehmen ins Ausland betrugen nach Angaben der Deutschen Bundesbank in 2015 über 98 Mrd. Euro. Verglichen mit den Zahlen aus dem Jahr 2012 ist dies eine Zunahme um 30 Prozent. Doch internationale Investitionen können eine Kehrseite haben. Was passiert, wenn internationale und wirtschaftlich starke Unternehmen, die schwächeren regionalen Märkte überfluten? Besonders in Entwicklungsländern wird viel investiert. Global agierende Unternehmen, mit ihren fast unbegrenzten finanziellen Ressourcen, diktieren dann die Konditionen. Dort wo sie investieren, bestimmen sie, wie Angestellte behandelt oder die Umwelt beachtet wird. Sie entscheiden, ob die lokale Wirtschaft gefördert oder ausgebeutet wird. Hierbei stellt sich die Frage: Sind sich alle Unternehmen dieser enormen Verantwortung bewusst? Menschenrechtsskandale, wie jüngst in der Textilbranche, deuten jedoch auf das Gegenteil hin. Sollte es nicht, wie auf nationaler Ebene auch, Spielregeln geben?

Einen Handlungsrahmen könnten die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen bieten. Wie diese funktionieren und ob die Regelungen die notwendige Durchschlagskraft besitzen, ist Gegenstand dieses Artikels.

Wer ist Adressat der OECD-Leitsätze?

Die OECD-Leitsätze sind an multinationale Unternehmen adressiert. Doch was genau sind multinationale Unternehmen eigentlich? Eine konkrete Definition liefert die OECD in ihren Leitsätzen nicht, jedoch nennt sie darin Kriterien, was unter multinationalen Unternehmen zu verstehen ist.

Demnach sind dies Unternehmen, die in dem Staatsgebiet eines Mitgliedslandes und gleichzeitig in einem oder mehreren anderen Ländern tätig sind. Dieses tätig sein in mehreren Ländern setzt folglich eine Investition in das jeweilige Land voraus. Das Gesellschaftskapital kann dabei sowohl privat, öffentlich oder gemischt zusammengesetzt sein. Eine Beschränkung auf einen Wirtschaftsbereich findet nicht statt. Ferner sind alle Einheiten dieser Unternehmen betroffen und daher in Konzernen sowohl die Muttergesellschaft, als auch die Tochtergesellschaft.

Beispiele für multinationale Unternehmen aus Deutschland sind beispielsweise der Reifenhersteller Continental aus Hannover, der Sportartikelhersteller Adidas aus Herzogenaurach und Siemens aus München.

Der Inhalt der OECD-Leitsätze

Die OECD-Leitsätze sind in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil umfasst die allgemeinen Grundsätze und speziellen Empfehlungen. Besonders hervorzuheben ist der allgemeine Grundsatz zur Förderung des wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Fortschritts. Multinationale Unternehmen sollen Verantwortung tragen, indem sie lokale Strukturen verbessern. Sie sollen Unternehmen, Unternehmer und Arbeitnehmer in den Zielländern in ihre wirtschaftlichen Prozesse einbinden. Dazu sollen sie z.B. eine Verbindung zu lokalen, einflussreichen Geschäftspartnern aufbauen und somit gemeinsam die dortige Wirtschaft fördern. Daran schließt sich der Grundsatz einer guten Unternehmensführung an.

Während multinationale Unternehmen eigene Corporate Governance Strukturen entwickeln und anwenden sollen, werden sie darüber hinaus dazu angehalten, diese Prozesse auf ihre Geschäftspartner zu übertragen. Dies geschieht z.B. bei Siemens im Rahmen der Implementierung gemeinsamer Compliance-Systeme für Großprojekte („Compliance bei Siemens, S. 88). In vertraglichen Vereinbarungen wurden so im Januar 2016, mit zwei der wichtigsten lokalen Partner in Ägypten, umfassende Standards für saubere Geschäftspraktiken und Integrität festgelegt.

Besonders wichtig sind neben wirtschaftlichen Aspekten auch die Sozialen. Multinationale Unternehmen sollen international anerkannte Menschenrechte respektieren und auch in den Zielländern anwenden. Besonders in Entwicklungsländern sollen die oftmals niedrigen lokalen Standards, wie z.B. im Bereich des Arbeitsschutzes, nicht von den Großkonzernen als Wettbewerbsvorteil ausgenutzt werden. Vielmehr sollen eigene Standards im Zielland aufgebaut werden und so zur Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts beitragen werden. Vergleichbares soll auch durch die Anwendung eigener Umweltstandards im Zielland und bei lokalen Geschäftspartnern erreicht werden, um den ökologischen Fortschritt zu verbessern. So sollen u.a. Umweltmanagementsysteme errichtet werden, wie z.B. für das Recycling von Schuhen beim Großkonzern Nike über das Programm NikeGrind. Das Unternehmen nimmt alte oder defekte Schuhe im Rahmen von Sammelprogrammen zurück und verwendet sie zur Herstellung von Bodenbeschichtungen für Sportplätze. So wurden in den letzten 10 Jahren 15 Millionen Paar Schuhe der Wiederverwertung zugeführt. Es wird versucht, einen Domino-Effekt zu erzeugen, indem die Standards und Grundsätze auf immer mehr lokale Unternehmen und somit die gesamte regionale Wirtschaft übertragen werden. Insgesamt sollen durch diese Maßnahmen mögliche negative Effekte verhindert werden, die multinationale Unternehmen durch internationale Investitionen oder ihre Geschäftspartner verursachen können. All dies erfolgt nach dem Grundsatz der Selbstregulierung.

Die speziellen Empfehlungen konkretisieren die allgemeinen Grundsätze durch genauere Regelungen. Zu deren Umsetzung verweisen sie regelmäßig auf geltende internationale Vereinbarungen und Organisationen, wie die Internationale Arbeitsorganisation im Bereich der Menschenrechte oder der Agenda 21 beim Umweltschutz.  

Der zweite Teil der OECD-Leitsätze enthält und regelt das sogenannte Umsetzungsverfahren. Das heißt konkret, wie die Empfehlungen aus den OECD-Leitsätzen in der Praxis verbreitet, weiterentwickelt und die wirksame Anwendung sichergestellt werden soll. Unter anderem ist im Rahmen des Umsetzungsverfahrens die Errichtung sogenannter nationaler Kontaktstellen vorgesehen.

Die nationalen Kontaktstellen

Entsprechend der OECD-Leitsätze sind die Mitglieds- und Teilnehmerstaaten dazu verpflichtet, nationale Kontaktstellen einzurichten und diese mit eigenen Finanz- und Personalressourcen auszustatten. Diese Verpflichtung beruht auf einem Beschluss des Rates der OECD aus dem Jahr 2000.

Die nationalen Kontaktstellen haben zur Aufgabe, die Bekanntheit und Einhaltung OECD-Leitsätze zu fördern, zur Lösung von Problemen im Rahmen der Umsetzung der Leitsätze beizutragen, dem Investitionsausschuss Bericht zu erstatten und bei Verstößen und Hinweisen zwischen den Parteien zu vermitteln.

Wie sehen die Verfahren vor den nationalen Kontaktstellen aus?

Vor den nationalen Kontaktstellen steht den multinationalen Unternehmen ein Anfrageverfahren zur Verfügung, über das die Unternehmen selbst die Umsetzung der Leitsätze im eigenen Unternehmen prüfen lassen können. Unter Hinzuziehung von Dritten, beispielsweise Experten, anderen multinationalen Unternehmen und auch NGOs, beantworten die nationalen Kontaktstellen diese Anfragen einseitig. Eine Veröffentlichung dieser Berichte erfolgt allerdings nicht.

Ferner steht den Parteien ein Beschwerdeverfahren zur Verfügung, was die “Anwendung der Leitsätze in besonderen Fällen” gewährleisten soll. Dies bedeutet, dass bei Verstößen gegen die Leitsätze ein solches Beschwerdeverfahren vor der nationalen Kontaktstelle angestrebt werden kann. Antragsberechtigt sind hierfür natürliche und juristische Personen, die ein berechtigtes Interesse an der fraglichen Angelegenheit haben und eine Begründung der Beschwerde einreichen. Der Kreis der potentiellen Antragsberechtigten ist folglich enorm groß, d.h. antragsberechtigt ist grundsätzlich jeder. Die nationale Kontaktstelle prüft zunächst, ob die OECD-Leitsätze von der fraglichen Angelegenheit betroffen sind, und, sofern dies der Fall ist, wird den beteiligten Parteien die Möglichkeit der Mediation eröffnet. Die Partizipation am Mediationsverfahren ist freiwillig, auch für die Partei, der eine fragliche Angelegenheit zur Last gelegt wird. Die Parteien können sich einigen, müssen dies aber nicht.

Bei einer Einigung kann die nationale Kontaktstelle einen Bericht über das Verfahrensergebnis veröffentlichen. Ein Bericht seitens der nationalen Kontaktstelle wird jedoch zwingend, sofern die Parteien sich nicht einigen.

Was spricht für und was spricht gegen die OECD-Leitsätze?

Das vielleicht stärkste Argument der Befürworter der OECD-Leitsätze ist die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Einrichtung von nationalen Kontaktstellen auf staatlicher Ebene, denn diese völkerrechtliche Verpflichtung ist durch die Mitgliedstaaten zwingend umzusetzen. Ferner sind die nationalen Kontaktstellen mit eigenem Human- und Personalressourcen auszustatten, wodurch sie an Unabhängigkeit und Kompetenz gewinnen und ihrer Verantwortung gerecht werden können.

Ein weiteres und starkes Argument für die OECD-Leitsätze ist, dass die Leitsätze in Zusammenarbeit mit den vielen daran beteiligten Interessengruppen kontinuierlich weiterentwickelt werden und diese Weiterentwicklung vor dem Hintergrund von sich ändernden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geschieht. Diese Fortschritte und einschlägige Berichte werden in der OECD Library veröffentlicht.

Den multinationalen Unternehmen stehen die nationalen Kontaktstellen auch im Rahmen des Anfrageverfahrens zur Verfügung, mittels dessen sie die Anwendung und Umsetzung der Leitsätze prüfen lassen können. Lösungen zu möglichen Abweichungen im Hinblick auf die Umsetzung der Leitsätze können folglich proaktiv durch die multinationalen Unternehmen gesucht werden, ohne, dass es zu einem Beschwerdeverfahren kommen muss.

Schließlich besteht, wenn auch teilweise, die Verpflichtung für die nationale Kontaktstelle, über den Verfahrensausgang des jeweiligen Beschwerdeverfahrens zu berichten. Daraus folgen die Nennung der Parteien, das konkret zur Last gelegte Verhalten und auch die Empfehlung der nationalen Kontaktstelle.

Aus Sicht der Gegner der OECD-Leitsätze ist zunächst die Rechtsnatur der Leitsätze kritisch zu bewerten, da diese lediglich Empfehlungen darstellen und die Umsetzung auf Freiwilligkeit beruht. Für die eigentlichen Akteure am Markt, die multinationalen Unternehmen, entsteht keine rechtliche Bindungswirkung. Die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen sind daher als internationales „soft law“ zu bezeichnen.

Zur inhaltlichen Formulierung der Leitsätze ist ferner anzumerken, dass diese oftmals schwammig formuliert sind, was eine breite Auslegung zulässt und im Streitfall seitens der Parteien zu einer unterschiedlichen Auslegung führen kann. Aufgrund von unkonkreten Normen sind z.B. die Hürden der Beweispflicht für Verstöße sehr hoch. So konnte dem Münchner Überwachungsunternehmen “Travicor GmbH” 2013 eine Verwicklung bei Menschenrechtsverletzungen in Bahrain nachgewiesen werden, die nach Angaben der nationalen Kontaktstelle in Deutschland jedoch nicht einmal ausreichend für eine weitergehende Prüfung gewesen sei. Dazu führte die Organisation ECCHR aus, dass ein Beschwerdeverfahren seinen Sinn verliere, wenn die Messlatte für Beweise derart hoch sei. Lesen Sie hier die Pressemitteilung zum Verfahrensausgang von Reporter ohne Grenzen.

Die Unterschiede bei der Verfahrensaufnahme und Auslegung von Sachverhalten zwischen den einzelnen nationalen Kontaktstellen torpediert darüber hinaus die einheitliche Umsetzung der Leitsätze. So ist die nationale Kontaktstelle in Deutschland, die beim Bundeswirtschaftsministerium angesiedelt ist, in der Rüge von Unternehmen bisher sehr zurückhaltend gewesen. Dies ist auch im Vorgehen bei der Firma “Travicor GmbH” zu sehen gewesen. Ein vergleichbarer Fall gegen die britisch-deutsche “Gamma Group” wurde von der britischen nationalen Kontaktstelle in 2013 sehr schnell angenommen und führte direkt zu einem Vermittlungsverfahren. Die einheitliche Anwendung der Leitsätze scheint folglich nicht gegeben..

Neben der fehlenden Bindungswirkung für die handelnden Akteure ist ebenso die fehlende Sanktionierung bei Nichtbefolgung der Leitsätze als ein deutlicher Schwachpunkt zu bewerten. Die OECD-Leitsätze sehen keine monetären Strafen vor, abgesehen von einem möglichen Imageverlust bei einer Veröffentlichung nach einem Beschwerdeverfahren.

In 2015 legte beispielsweise die IG Metall vor der deutschen nationalen Kontaktstelle Beschwerde gegen den Autohersteller Hyundai ein. Ihm wurden willkürliche Entlassungen von Betriebsratsmitgliedern im Werk Rüsselsheim zur Last gelegt. Hyundai beteiligte sich nicht an dem Mediationsverfahren und der deutschen nationalen Kontaktstelle blieb in ihrer Stellungnahme nur die Möglichkeit das Verhalten von Hyundai zu rügen und auf die Einhaltung der OECD-Leitsätze zu verweisen.

Fazit

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die OECD-Leitsätze zwar einen wichtigen Beitrag zur Förderung von gutem unternehmerischen Handeln leisten, gleichwohl jedoch beträchtliche Mängel in den Möglichkeiten ihrer Umsetzung aufweisen. Leitsätze, deren Einhaltung nicht konsequent und nicht mit demselben Maßstab in allen Mitgliedsländern verfolgt wird, wirken unglaubwürdig und stärken nicht das Vertrauen in diese.

Eine konstante Weiterentwicklung der Leitsätze und eine Verbesserung der Umsetzungsmöglichkeiten kann allerdings inhaltlich dazu führen, dass multinationale Unternehmen langfristig höhere Maßstäbe in ihrem unternehmerischen Handeln anwenden und insgesamt mehr Verantwortung übernehmen. Da gerade alle Akteure an der Weiterentwicklung arbeiten, kann dies zu einem hohen Maß an Identifikation führen und dadurch die Einhaltung fördern.

Im Ergebnis ist ein unverbindlicher Verhaltenskodex allerdings nur ein “zahnloser Tiger”, dem es an Biss fehlt. Ein Verstoß gegen die Leitsätze muss in Zukunft sanktionierbar sein, damit den OECD-Leitsätzen mehr Gewicht zukommt und internationale Investitionen auch zum Wohle der lokalen Wirtschaft getätigt werden.

 

(Dieser Artikel wurde von Lukas Dolata, Nicholas Mros und Christoph Wahl im Februar 2017 verfasst.)