Die Auflösung des Betriebsrates als gesamtes Gremium gemäß § 23 I 1 BetrVG stellt einen tiefgreifenden Eingriff in die mittelbaren Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer durch dieses Gremium dar. Eine solch schwerwiegenden Sanktion verhängte das ArbG Berlin mit Beschluss vom 26.3.2015 – 4 BV 11463/14 auf Antrag der Arbeitgeberin zu Ungunsten des Betriebsrates eines Berliner Betriebes. Diese wurde – allen zweifelhaften Aussagen der Betriebsratsmitglieder und der unübersichtlichen Sachlage  zum Trotz  – durch den hier vorliegend thematisierten Beschluss vom 4.2.2016 – 10 TaBV 2078/15 des LAG Berlin-Brandenburg korrigiert.
Der amtliche Leitsatz des Beschlusses des LAG Berlin-Brandenburg lautete:

„Die Auflösung des Betriebsrates als gesamtes Gremium kommt nur in Betracht, wenn das Gremium insgesamt grob gegen Pflichten aus dem BetrVG verstößt. Verstöße einzelner Mitglieder sind nicht ausreichend. (amtl. Leitsatz)

Sachverhalt

Die Arbeitgeberin reichte nach § 23 I 1 BetrVG beim ArbG Berlin Antrag auf Auflösung des Betriebsrats ein. Die zugrunde liegende grobe Pflichtverletzung läge in der Rückdatierung von wenigstens neun Beschlüssen auf den 19.09.2013, den Tag der ersten Sitzung des Betriebsrats. Dabei weist die Arbeitgeberin darauf hin, dass zumindest einige Beschlüsse von thematisch spezialisierten Ausschüssen des Betriebsrats gefasst worden sein, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestanden hätten. Die Beschlüsse betreffen unangezweifelt die Teilnahme an externen Schulungsveranstaltungen für Betriebsratsmitglieder.
Zudem seien zwei Schulungen auf Grundlage dieser rückdatierten Beschlüsse auch tatsächlich in Anspruch genommen wurden. All dies ginge aus der vorliegenden EMail-Korrespondenz zwischen Personalleiter und diversen Betriebsratsmitgliedern hervor.
Durch dieses pflichtwidrige Vorgehen habe der Betriebsrat zum einen gegen das Gebot der ordnungsgemäßen Beschlussfassung aus § 33 BetrVG verstoßen und überdies das grundlegende Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit aus §§ 2 II, 74 II 2 BetrVG missachtet. Überdies sei der Arbeitgeberin in den zwei genannten Fällen ein finanzieller Schaden entstanden, da sie die Kostenübernahme für diese Schulungen auf  Grundlage fehlerhafter Beschlüsse genehmigt habe.
Unter Bezugnahme auf den Beschluss des BAG vom 22.06.1993 – 1 ABR 62/92 und in Anerkennung der dort formulierten Voraussetzungen der objektiven Erheblichkeit und des offensichtlichen Gewichts gab das ArbG Berlin dem Antrag der Arbeitgeberin statt und beschloss die Auflösung des Betriebsrates als gesamtes Gremium am 26.03.2015.

Gegen diesen Beschluss legte der Betriebsrat Beschwerde beim LAG Berlin-Brandenburg ein und beantragte die Abänderung des Beschlusses zur Auflösung des gesamten Organs.

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Problematik

Das LAG Berlin-Brandenburg widersprach diesem Beschlusses , wobei dieser gegenteiligen Meinung zwei zentrale Fragen zu Grunde liegen:

  • Wer genau muss in grober Weise Pflichten verletzt haben, um die Rechtsfolge des § 23 I 1 BetrVG und also die Auflösung des Betriebsrates einzuleiten?
  • Wer handelte hier – das Gremium Betriebsrat oder einzelne Mitglieder?

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Begründung des LAG Berlin-Brandenburg

Das LAG Berlin-Brandenburg  hob zunächst hervor, dass der § 23 I 1 BetrVG die Sanktion der Auflösung der Betriebsrates als gesamtes Gremium nur vorsieht, insofern dieses in seiner Gesamtheit grob pflichtwidrig handelt. So kommt es gerade nicht auf den Tatbeitrag einzelner, sondern auf ein kollektives Handeln des Organs an, etwa in Form einer pflichtwidrigen Beschlussfassung. Auch angesichts der wiederholten Verwendung der Funktionsadresse des Betriebsrates für die Email-Korrespondenz kann nicht von einem gemeinschaftlichen Handeln gesprochen werden, da die Nachrichten immer mit den Namen einzelner Mitglieder unterzeichnet waren. Dass das Betriebsratsgremium diese Handlungen einzelner billigte oder unterstützte und sich somit die Pflichtverletzung zurechnen lassen muss, kann ebenfalls nicht bestätigt werden.

Daneben räumt das LAG grundsätzlich ein, dass ein nachträgliches Fertigen fehlerhafter Beschlüsse im Kern als nachhaltiger Verstoß gegen § 2 II BetrVG gewertet werden kann. Im vorliegenden Sachverhalt würde das Heranziehen dieser zwei Jahre zurückliegenden Pflichtverletzung jedoch den Zweck den § 23 I 1 BetrVG verfehlen, da dieser die gegenwärtige Zusammenarbeit der Parteien regulieren soll.

Überdies stellte das LAG klar, dass eine Missachtung des Betriebsfriedens aus  § 74 II 2 BetrVG jedenfalls nicht vorliegt, da die Vorgänge nicht in die Belegschaft ausgestrahlt haben.

Schließlich verweist das LAG die Arbeitgeberin hinsichtlich der von ihr angemahnten finanziellen Schäden auf ihr Recht zur Herausgabe. Sollten demnach fehlerhafte Beschlüsse in einzelnen Fällen zur Rechtfertigung der Kostenübernahme herangezogen worden sein, entfällt mithin die Rechtsgrundlage für die Leistung der Arbeitgeberin.

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Fazit

Bei augenscheinlich fehlerhaftem Verhalten in der Sphäre des Betriebsrates empfiehlt es sich zwischen Tatbeiträgen einzelner Mitglieder und kollektiver Handlungen des Betriebsratgremiums genau zu unterschieden.

Mithin öffnet dieser Beschluss missbräuchlichen Verhalten des gesamten Gremiums Tür und Tor,
Das LAG Berlin-Brandenburg setzt für die Rechtsfolge des § 23 I 1 BetrVG  eine kollektive Beschlussfassung voraus.  Nur in dieser Form beschlossene rechtswidrige Entscheidungen sollen dem Gremium als Pflichtverletzung angelastet werden. Eine konsequent dezentrale Kommunikation mit dem Arbeitgeber, welche also stets durch einzelne Mitglieder geführt würde, könnte demnach gemeinschaftliche Beschlüsse als Einzelmeinungen deklarieren. Darüber hinaus ist fraglich, inwiefern die Mitglieder nur formalen Beschlüssen Folge leisten oder informelle Absprachen in ihr Handeln einbeziehen. Die Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg ist also dringend zu konkretisieren, sodass auch die Außenwirkung des Handelns einzelner Mitglieder berücksichtigt wird.