Ist es erlaubt, als Lehrerin im Unterricht ein Kopftuch zu tragen? Mit dieser Frage befasste sich jüngst zum wiederholten Male das Bundesverfassungsgericht. Mit Beschluss vom 27. Januar 2015 (BVerfG, Urt. v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10) entschied es erneut über die Frage, ob Lehrerinnen das Tragen eines Kopftuches im Schuldienst untersagt werden könne und kommt zu dem Urteil, dass ein pauschales Verbot religiöser Bekundungen in öffentlichen Schulen nicht mit der Verfassung vereinbar sei. Es korrigierte damit seine bisherige Rechtsprechung, fußend auf dem „Kopftuch-Urteil“ aus 2003.

Kopftuch in Schulen seit 1998 diskutiert

Entfacht wurde die sogenannte „Kopftuchdebatte“ bereits 1998, als das Land Baden-Württemberg einer muslimischen Lehrerin versagte, nach ihrem Referendariat in den Schuldienst des Landes einzutreten, weil diese nicht bereit war, ihr Kopftuch während des Unterrichtens abzulegen. Der Fall kam schlussendlich vor das Bundesverfassungsgericht. Dies urteilte, dass es an einer gesetzlichen Grundlage mangele, die ein derartiges Verbot vorsieht und verwies diesbezüglich an die Länder, denen für die Gesetzgebung im öffentlichen Dienst und im Schulwesen entsprechend Art. 30 GG die Kompetenz obliege (BVerfG, Urt. v. 24.09.2003 – 2 BvR 1436/02).

Acht Bundesländer haben daraufhin Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht, die beinhalteten, dass muslimischen Frauen im öffentlichen Dienst oder im Schulwesen das Kopftuchtragen verboten werden kann. Darunter auch das Land Nordrhein-Westfalen (NRW), das in seinem Schulgesetz in § 57 IV SchulG NW das Verbot verankern ließ. Im jetzt durch die Karlsruher Richter entschiedenen Verfahren ging es konkret um zwei Verfassungsbeschwerden, und zwar zum einen um die einer im Schuldienst des Landes NRW angestellten Lehrerin muslimischen Glaubens und zum anderen um die einer ebenfalls im Dienste des Landes stehenden, angestellten muslimischen Sozialpädagogin. Die Beschwerden richteten sich insbesondere gegen die Bestätigung der Arbeitsgerichte hinsichtlich der Sanktionen, die aus der Weigerung, das Kopftuch abzulegen, resultierten und weiterhin gegen § 57 IV SchulG NW (gültig in der Fassung vom 13.06.2006), wonach es Lehrkräften untersagt wurde, unter anderem religiöse Bekundungen abzugeben, die zumindest theoretisch geeignet sind, die Neutralität des Landes oder den Schulfrieden als solches zu gefährden. Vom Verbot ausgenommen wurden christliche Werte und Traditionen.

Neutralitätspflicht versus Religionsfreiheit

Im Zentrum der Debatte standen die staatliche Neutralitätspflicht auf der einen und das Grundrecht auf Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG der beiden Klägerinnen auf der anderen Seite. Die Beschwerdeführerinnen sehen im Kopftuch – als Ausdruck ihrer Persönlichkeit aufgrund ihrer religiösen Überzeugung –  ein Bekenntnis zur freien Religionsausübung. Sie sind weiterhin der Auffassung, dass ihnen der Zugang zur qualifizierten beruflichen Tätigkeit als Pädagogin im öffentlichen Dienst verwehrt bliebe, obwohl ihnen nach Art. 33 II, III GG gleichermaßen die Möglichkeit auf Zugang zu öffentlichen Ämtern gegeben sein müsse, unabhängig davon, welcher Religion sie angehören.

Dagegen brachte das Land Nordrhein-Westfalen in seiner Begründung zum Gesetz vor, dass Religionsfreiheit auch ein Abwehrrecht des Bürgers gegenüber dem Staat sei, garantiert also nicht nur, dass jedermann seine Religion ausüben darf (positive Religionsfreiheit), sondern auch, dass man keine Religion ausüben oder mit ihr konfrontiert werden muss (negative Religionsfreiheit). Problematisch ist dies hinsichtlich der vorherrschenden Schulpflicht, durch die Schülerinnen und Schüler keine Möglichkeit haben, der durch die Lehrerin ausgeübten Religion auszuweichen. Auch das Erziehungsrecht aus Art. 6 II S. 1 GG garantiert, dass Eltern ihre Kinder von religiösen Einflüssen fernhalten können, wenn sie sie für schädlich erachten. Weiterhin begründete das Land NRW seine Entscheidung, ein flächendeckendes Kopftuchverbot einzuführen, im Wesentlichen damit, dass die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates gewahrt werden soll (Art. 4 III GG), wonach der Staat sich unter anderem nicht mit einer bestimmten Religion identifizieren darf.

Pauschale Verbote nicht verfassungskonform

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichtes entschied nun zugunsten der muslimischen Pädagogen aus Nordrhein-Westfalen, dass „ein pauschales Verbot religiöser Bekundungen in öffentlichen Schulen durch das äußere Erscheinungsbild von Pädagoginnen und Pädagogen mit deren Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 I, II GG) nicht vereinbar“ ist. Damit stellte das Gericht weiterhin fest, dass § 57 IV S. 1, 2 SchulG NW nicht verfassungskonform ist und der Eingriff in die freie Religionsausübung der beiden Frauen schwer wiegt. Die bloß abstrakte Eignung, durch äußere Bekundungen den Schulfrieden zu gefährden, reicht demnach nicht aus. Die Gefährdung muss hinreichend konkret den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität beeinträchtigen, damit ein Verbot gerechtfertigt werden kann. Weiterhin verstößt die Bevorzugung „christlich-abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen“, wie sie durch § 57 IV S. 3 SchulG NW gegeben sind, gegen das Benachteiligungsverbot aufgrund religiöser Identität (Art. 3 III S. 1, Art. 33 II GG) und ist somit nichtig. Ein Verbot könne im individuellen Fall bei ausreichend konkreter Gefährdung ausgesprochen werden, müsse aber ausnahmslos, also nicht nur für Musliminnen und Muslime, sondern für alle Konfessionen gleichermaßen gelten.

Das BVerfG hat damit ebenfalls die Entscheidungen der arbeitsgerichtlichen Instanzen aufgehoben und verwies die Verfahren zurück an die jeweiligen Landesarbeitsgerichte.

Dass der Streit um das Kopftuch damit beigelegt ist, davon ist trotzdem nicht auszugehen. Die Karlsruher Richter betonten zwar, dass im konkreten Fall der Gefährdung des Schulfriedens ein Verbot gerechtfertigt sein kann. Was aber genau der Schulfrieden ist und wann er als gefährdet gilt, blieb offen. Ist er schon gefährdet, wenn eine muslimische Lehrerin ihren Schülern erklärt, warum sie das Kopftuch trägt, oder doch erst dann, wenn sie für das Tragen des Tuches offensiv wirbt? Was passiert, wenn Eltern nicht möchten, dass ihre Kinder von einer kopftuchtragenden Lehrkraft unterrichtet werden und sie deshalb von der Schule fernhalten? Dass eine Störung vorliegt, ist außer Frage, aber wer ist der Störer – Eltern oder Lehrkraft? Wird der Schulalltag durch die neu einzuführenden Regelungen möglicherweise „überbürokratisiert“? Denkbar ist, dass es schulinterne Dispute geben wird zwischen Schulbehörde und Schule, zwischen Eltern und Lehrern, unter Schülern selbst… Schafft das Frieden in der Schule oder führt dies, als langfristige Folge des Urteil, nur dazu, dass Religion(en) komplett aus der Schule verbannt werden? Falls ja, gefährdet das die deutsche Tradition der Koexistenz von Religion, Staat und Kirche? Zu all diesen Fragen bezieht das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil keine Stellung.

Festzustellen bleibt nur, dass die Debatte um das Kopftuch damit wieder in ihren Ausgangsort verlegt wird: nämlich in die Schule selbst.