Die deutsche Tariflandschaft ist von immer wiederkehrenden Maßnahmen des Arbeitskampfes geprägt. So bewirkte der von der GDL geführte Streik nicht nur enorme Verluste bei der Bahn, sondern auch wesentliche Beeinträchtigungen auf Seiten der Fahrgäste. Neben der GDL nutzen indes auch andere Gewerkschaften wie ver.di und die GEW ihre Möglichkeit, für bessere Arbeitsbedingungen zu streiken. Dem will die Politik nun Einhalt gebieten und legte im Oktober 2014 einen Referentenentwurf zu einem geplanten Tarifeinheitsgesetz vor. Tarifkollisionen im Betrieb sollen von nun an nach dem Mehrheitsprinzip gelöst werden. Für kleinere Gewerkschaften bedeutet das allerdings eine erhebliche Einschränkung ihrer Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 III GG.
Was beinhaltet das Tarifeinheitsgesetz?
Der Referentenentwurf sieht eine grundlegende Änderung des Tarifvertragsgesetzes vor. Seit dem Urteil des BAG vom 07.07.2010 gilt in den Betrieben der Grundsatz der Tarifpluralität, wonach für dieselbe Arbeitnehmergruppe verschiedene Tarifverträge gleichzeitig Anwendung finden konnten. Der Referentenentwurf will nun diese so genannten Tarifkollisionen nach dem Mehrheitsprinzip auflösen. Sollten zwei nicht inhaltsgleiche Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften den gleichen Geltungsbereich haben, findet der Tarifvertrag jener Gewerkschaft Anwendung, die zum Zeitpunkt des letzten Vertragsschlusses die meisten Mitglieder im Betrieb hatte. Dadurch soll die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gesichert und ausufernde Arbeitskämpfe in wichtigen Bereichen vermieden werden.
Diese Regelung soll allerdings nur dann eingreifen, wenn die Tarifvertragsparteien es nicht schaffen, durch eigenständige Verhandlungen und Entscheidungen solche Tarifkollisionen zu vermeiden. Nach Vorstellung der Regierung können die Gewerkschaften in die Verhandlungen z.B. eine Abstimmung über ihre Zuständigkeiten mit einbeziehen und so erreichen, dass ihre Tarifverträge für verschiedene Arbeitnehmergruppen gelten. Außerdem ist ihnen auch die Möglichkeit gegeben, in einer Tarifgemeinschaft gemeinsam Tarifverträge zu verhandeln oder inhaltsgleiche Tarifverträge abzuschließen.
Die Rechte der Minderheitsgewerkschaften
In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, inwiefern Minderheitsgewerkschaften noch fähig wären, ihre Koalitionsfreiheit nach Art. 9 III GG auszuüben. Die Koalitionsfreiheit beinhaltet das Recht der Arbeitnehmer, Vereinigungen zu bilden, also auch sich in Gewerkschaften zu organisieren und sich in diesen zu betätigen, so zum Beispiel Tarifverträge abzuschließen und Arbeitskampf zu betreiben. Wenn eine Gewerkschaft keinen eigenen Tarifvertrag wirksam abschließen kann, ist sie ihrer wesentlichen Betätigung beraubt und in eben dieser Koalitionsfreiheit verletzt. Dieser Überlegung soll laut Referentenentwurf durch verschiedene Regelungen Rechnung getragen werden. Minderheitsgewerkschaften sollen das Recht auf Anhörung bei Verhandlungen der Mehrheitsgewerkschaft mit dem Arbeitgeber bekommen. Damit sind diese berechtigt, dem Arbeitgeber ihre Vorstellungen und Forderungen mündlich vorzutragen. Außerdem bekommen Minderheitsgewerkschaften ein Recht zur Nachzeichnung. Dies bedeutet, dass sie einen Tarifvertrag abschließen dürfen, der denselben Inhalt wie der kollidierende Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft hat. Zum einen ist es den Minderheitsgewerkschaften also möglich, vor dem Tarifabschluss Bedenken gegenüber dem Arbeitgeber zu äußern. Zum anderen haben sie die Möglichkeit, einen Tarifvertrag abzuschließen, der allerdings keine eigenen Regelungen enthält. Dieses „Recht“ stellt damit lediglich klar, dass die Minderheitsgewerkschaft der eigenständigen Handlungsweise im Unternehmen beraubt wird und nur Anhang der Mehrheitsgewerkschaft ist.
Folge des geplanten Gesetzes wäre zusätzlich, dass die Minderheitsgewerkschaften keine Arbeitskampfmaßnahmen ergreifen könnten, also nicht mehr streiken dürften. Laut Begründung des Referentenentwurfs ist ein Streik, der auf den Abschluss des Tarifvertrags einer Minderheitsgewerkschaft gerichtet ist, unverhältnismäßig. Der Gesetzestext selbst schweigt zwar zu den Folgen im Arbeitskampfrecht, jedoch wird deutlich herausgestellt, dass künftig die Arbeitsgerichte darüber zu entscheiden haben, wann ein Streik als angemessen erachtet wird. Dabei soll sich die Rechtsprechung an dem neuen Grundsatz der Tarifeinheit orientieren.
Bedeutung der Tarifeinheit
Der Referentenentwurf ist auf scharfe Kritik gestoßen. So bezeichnete der Präsident der Bundesärztekammer den Gesetzesentwurf als „Frontalangriff auf die Rechte der Arbeitnehmer“.
Minderheitsgewerkschaften sehen sich durch das geplante Tarifeinheitsgesetz zu Recht bedroht. Sollte dieses so verabschiedet werden, wird den Minderheitsgewerkschaften die Grundlage ihrer Existenz entzogen. Ihre einzige Möglichkeit, bestimmte Regelungen einzufordern, besteht im mündlichen Vortrag. Dieser Anspruch ist jedoch ein Trostpflaster ohne jegliche eigene Macht und Wirkung, denn er bindet den Arbeitgeber in keinster Weise. Darüber hinaus beinhalten nachgezeichnete Tarifverträge keine eigenen Ausführungen. Dies widerspricht der Aufgabe der Gewerkschaften, eigene, individuelle Forderungen aufzustellen und für ihre Mitglieder durchzusetzen. Den einzelnen Arbeitnehmern wird in diesem Zusammenhang die Möglichkeit entzogen, für ihre Interessen unabhängig und selbstbestimmt einzustehen. Daraus ergibt sich unter Umständen eine große Unzufriedenheit, die einen Rückgang der Mitgliedszahlen der Gewerkschaft zur Folge haben kann.
Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass Arbeitgeber ihre Betriebe so organisieren, dass unliebsame Gewerkschaften immer die Minderheit darstellen. Auch die Frage nach der Mehrheit im Betrieb bietet Gefahrenpotenzial. Um zu wissen, welche Gewerkschaft tatsächlich die meisten Mitglieder im Betrieb hat, müssen die genauen Mitgliederlisten offengelegt werden. Diese sollen im Zweifelsfall laut Referentenentwurf einem Notar vorgelegt werden. Problematisch ist dies, wenn die Offenlegung der Gewerkschaftszugehörigkeit nicht im Interesse des Arbeitnehmers liegt. Das Geheimhaltungsinteresse des Arbeitnehmers und die Mehrheitsermittlung sind also nicht miteinander vereinbar.
Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) bezieht ganz klar Stellung und lehnt das Gesetzesvorhaben ab: „Der Entwurf weist insgesamt in die falsche Richtung, er schafft keine Rechtsklarheit, sondern verursacht Rechtsunsicherheit.“ Laut ver.di stehe die Tarifeinheit der Koalitionsfreiheit und der Gewerkschaftsidee entgegen. Auch sieht ver.di die Notarlösung zur Ermittlung der Mehrheit im Betrieb als problematisch an, da dadurch Missbrauchsmöglichkeiten entstünden und Kurzmitgliedschaften oder beitragslose Mitgliedschaften die Richtigkeit und Akzeptanz des notariellen Ergebnisses gefährdeten.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund begrüßt hingegen die Tatsache, dass durch das Mehrheitsprinzip der Grundsatz „Ein Betrieb, ein Tarifvertrag“ gestärkt wird. Allerdings sieht auch der DGB deutlichen Nachbesserungsbedarf beim jetzigen Entwurf. So z.B. beim Betriebsbegriff. Es könne nicht sein, dass Arbeitgeber sich die Betriebe zurechtschneiden können, sodass die jeweils gewünschte Gewerkschaft eine Mehrheit erhält. Dazu zählt auch die Frage, wie im Konfliktfall die Mehrheit festgestellt werden soll. Darüber hinaus fehle eine Regelung, nach der allgemeinverbindliche Tarifverträge (also Tarifverträge, die auch ohne Verbandsmitgliedschaft für alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber innerhalb des Geltungsbereiches gelten) bei einer Tarifkollision Vorrang haben.
Abzuwarten bleibt, ob die Einschränkung des Streikrechts der Minderheitsgewerkschaften als verfassungskonform bewertet wird. Zur Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 III GG gehört nämlich auch das Recht, Arbeitskampfmaßnahmen durchzuführen. Wird in dieses Recht eingegriffen, muss eine verfassungskonforme Rechtfertigung vorliegen. Ob die Tarifeinheit einen Grundrechtseingriff wirklich rechtfertigt, ist mehr als fraglich. Die Vorsitzende der Neuen Assekuranz Gewerkschaft (NAG) Waltraud Baier kritisiert die Einschränkung des Streikrechts von Minderheitsgewerkschaften ganz klar. So lange die Möglichkeit zum Arbeitskampf fehlt, könnten diese Gewerkschaften keine Tarifverträge abschließen. Dies sei eindeutig verfassungswidrig. Auch laut ver.di berühre das genommene Streikrecht die nach Art. 9 III GG geschützte Koalitionsfreiheit, da diesen Gewerkschaften über einen längeren Zeitraum die Chance auf eigenständige Regelungen genommen werde.
Letztendlich bleibt es spannend abzuwarten, ob das Tarifeinheitsgesetz in seiner jetzigen konkreten Form verabschiedet wird und wie die Rechtsprechung die Problematik des eingeschränkten Streikrechts beurteilen wird.