Die Hauptversammlung der Siemens-AG hat am 27.1.2015 einem Vergleich der Siemens AG mit ihrem ehemaligen Finanzvorstand Neubürger zugestimmt. Der Vergleich (in der Einladung zur Hauptversammlung vollständig abgedruckt) beendet mit Zahlung von 2,5 Mio EUR einen Prozess, in dem Siemens Schadensersatz in Höhe von 15 Mio EUR von seinem ehemaligen Vorstandsmitglied verlangt. In erster Instanz hat Siemens den Betrag in einer intensiv diskutierten Entscheidung des Landgerichts München I zugesprochen erhalten. Grundlage ist ein System „schwarzer Kassen“, das 2006 im Konzern bekannt wurde und gegen das der Gesamtvorstand keine wirksamen Maßnahmen ergriffen hat. Es resultierte in sehr hohen Bußgeldzahlungen und umfassenden Compliance-Aktivitäten des Konzerns. Was ist die Grundlage des Schadensersatzanspruchs und welche Bedeutung hat die Entscheidung der Hauptversammlung?
Vorstandsverantwortung und Compliance – Management
Die Siemens-Korruptionsaffaire
Im Jahr 2006 wurde Siemens durch eine Korruptionsaffaire erschüttert. Durch Scheinberaterverträge kamen etwa 1,3 Mrd. € für „schwarze Kassen“ zusammen, die zur Bestechung von Entscheidungsträgern bei der Bewerbung um Aufträge verwendet wurden. Zur internen Aufklärung wendete der Konzern extrem hohe Rechtsanwaltshonorare auf, die SEC sowie Staatsanwaltschaften in den USA und in Deutschland verhängten erhebliche Bußgelder. Umfangreich waren aber auch die Abhilfemaßnahmen. So wurde infolge der Affäre eine Compliance-Abteilung mit über 600 Mitarbeitern aufgebaut. Zur internen Aufarbeitung gehörte das gerichtliche Geltendmachen von Schadensersatzansprüchen gegen Organmitglieder. Die meisten Vorstandsmitglieder ließen sich auf Vergleiche ein, nicht aber zunächst der ehemalige Finanzvorstand Neubürger.
Die Entscheidung des Landgerichts München I
Siemens klagte einen Teilbetrag des Gesamtschadens ein. Dieser Teilbetrag belief sich immernoch auf 15 Mio EUR. Das Landgericht München I verurteilte Herrn Neubürger zum Schadensersatz mit dem Argument, ihn treffe als Vorstandsmitglied eine Gesamtverantwortung für das Abwenden von Rechtsverstößen aus dem Unternehmen heraus. Dass er nicht unmittelbar zuständig war und dass er keine Kenntnis von den schwarzen Kassen hatte, geschweige denn deren Errichtung veranlasst hatte, konnte keine andere Sichtweise begründen. Schließlich habe er bei ersten Anzeichen für Regelverstöße veranlassen müssen, dass ein funktionierendes Compliance-Management-System eingeführt werde, gegebenenfalls durch Einwirkung auf die fachlich zuständigen Vorstandskollegen. Das habe er unterlassen und hafte daher nach § 93 II AktG der Gesellschaft für den Pflichtverstoß. Dass andere Vorstandsmitglieder ebenfalls ein Verschulden treffe, mindere die Haftung nicht, weil die verschiedenen Organmitglieder als Gesamtschuldner in Anspruch zu nehmen sind. Auch die sog. „business judgement rule“, die eine Haftungsentlastung bei unternehmerischen Entscheidungen begründet, war nicht anwendbar, schließlich ist die Legalitätspflicht zwingend und ihre Einhaltung steht nicht im unternehmerischen Ermessen.
Bedeutung der Entscheidung
Die landgerichtliche Entscheidung ist stark diskutiert worden, stellt sie doch eine der ersten gerichtlichen Entscheidungen dar, in denen ausdrücklich eine schadensersatzbewehrte Verpflichtung zum Errichten eines Compliance-Management-Systems bestätigt wird. Zudem wird klargestellt, dass das Ressortprinzip die nicht ressortzuständigen Vorstandsmitglieder nicht entlastet. Es wandelt lediglich die Verpflichtung, bestimmte Maßnahmen zu treffen, in eine Verpflichtung zu Überwachung und Nachfrage um. Wichtig ist die Entscheidung auch deshalb, weil in ihr deutlich gemacht wird, dass es nicht genügt, wenn die Compliance-Funktion irgendwo im Unternehmen zwar vorhanden ist, aber kein Vorstandsmitglied sie konkret zu seiner Aufgabe gemacht hat: Compliance ist Vorstandsaufgabe.
Befugnis zur vergleichsweisen Regelung?
Entscheidet sich nun der Aufsichtsrat, trotz des stattgebenden erstinstanzlichen Urteils einen Vergleich mit einer erheblich geringeren Schadensersatzsumme zu schließen, so erscheint dies zunächst einmal erstaunlich: Ist nicht der Vorstand durch die sog. ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung verpflichtet, Schadensersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder zu verfolgen? Und welche Bedeutung hat die Entscheidung der Hauptversammlung?
Hier ist § 93 IV 3 AktG von Bedeutung, der lautet:
Die Gesellschaft kann erst drei Jahre nach der Entstehung des Anspruchs und nur dann auf Ersatzansprüche verzichten oder sich über sie vergleichen, wenn die Hauptversammlung zustimmt und nicht eine Minderheit, deren Anteile zusammen den zehnten Teil des Grundkapitals erreichen, zur Niederschrift Widerspruch erhebt.
Aus der Vorschrift lässt sich ableiten, dass ein Verzicht möglich ist, wenn auch nur unter bestimmten Voraussetzungen. Sind diese erfüllt, steht aber angesichts des klaren Wortlauts des Gesetzes keine uneingeschränkte Verfolgungspflicht dem Verzicht entgegen. Um die Voraussetzungen eintreten zu lassen, konnte der Verzicht also vereinbart werden. Gleichzeitig wirkte dies wegen § 93 IV 1 AktG i.V.m. § 116 AktG für den Aufsichtsrat haftungserleichternd.
Die Gründe, die für den Aufsichtsrat ausschlaggebend waren: Der Prozess hätte noch länger Arbeitskraft gebunden und für negative Schlagzeilen gesorgt. Zudem hatte Herr Neubürger nachgewiesen, dass er die erstinstanzlich ausgeurteilte Summe nicht würde zahlen können. Nicht zuletzt erschien es dem Aufsichtsrat angesichts früherer Verdienste des langjährigen Vorstandsmitglieds unangemessen, dieses „in den Ruin“ zu treiben. Für eine Entscheidung, Schadensersatzansprüche nicht zu verfolgen, hätte angesichts der hier eindeutigen Rechtsprechung keines dieser Argumente genügt.
Die Anforderungen an die Begründung für einen Verzicht oder Vergleich über Schadensersatzansprüche sind als weitaus geringer als die Anforderungen an die Entscheidung des Aufsichtsrats, einen entsprechenden Anspruch gar nicht erst geltend zu machen. Das erscheint zwar als Wertungswiderspruch, ist aber darin begründet, dass durch das Einschalten der Hauptversammlung eine andere Kontrollinstanz für den Vergleich aktiv wird.
Angesichts der exorbitanten Beträge in den Schwarzgeldkassen scheinen die Forderungen von Siemens gegen die ehemaligen Vorstandsmitglieder Ganswindt und Neubürger in Höhe von 20 Millionen Euro sehr gering. Dass sich der Konzern nun anstatt des geforderten Betrags von 15 Millionen auf einen Betrag in Höhe von 2,5 Millionen vergleicht, wirkt im Hinblick auf die Tatsache, dass der Skandal Siemens mehr als 2 Milliarden Euro kostete fast schon lächerlich. Für den Konzern ist jedoch der Vergleich die günstigere und einfachere Variante und bringt nun den lang erhofften Rechtsfrieden.
Auch in den Strafprozessen gegen die ehemaligen Vorstände hätte das Gericht im Rahmen seiner Möglichkeiten vielleicht gut daran getan, ähnlich wie im Fall Hoeneß, ein Exempel zu statuieren. Korruption im großen Stil ist eben genau wie Steuerhinterziehung kein Kavaliersdelikt und die Verantwortlichen, insbesondere die Vorstände, sollten bestraft werden.
Bei der Korruptionsbekämpfung sind allerdings auch die Unternehmen in der Pflicht. Der Implementierung eines funktionierenden Compliance Systems kommt dabei große Bedeutung zu. Wie bei Siemens geschehen, muss nun zukünftig ein eigenes Vorstandsresort für Compliance eingerichtet werden. Das Urteil des LG München zeigt erneut, dass Compliance eine zunehmende Bedeutung in Unternehmen zukommt.
Siemens und auch vielen anderen Großkonzernen haben u.A. durch dieses Urteil ein Compliance System auf der Management-Ebene eingeführt. Das Compliance Management sinnvoll ist und immer mehr an Bedeutug gewinnt, zeigt auch die Veröffentlichung der ISO 19600 im Dezember 2014. Die ISO ist ein internationaler Standart, welcher nunmehr Unternehmen dabei helfen soll Kontrollsysteme aufzubauen, um ein rechtmäßiges Verhalten ihrer Mitarbeiter auf allen Ebenen zu gewährleisten. Das System kann auch dazu genutzt werden, Qualitäts- und Umweltstandarts sowie weitere Unternehmensleitlinien umzusetzen.
Vor dem Hintergrund, dass dem Vorstand gem. § 76 I AktG die Leitung der Geschäfte obliegt, ist der Vorstand für den reibungslosen Ablauf des Tagesgeschäfts und für die Entwiklung des Unternehmens zuständig. Dabei heißt es stets überwachen und organisieren, oder wie es das Siemens-Compliance-System jetzt umsetzt: erkennen, vorbeugen und reagieren.
Das Urteil zeigt einmal mehr, dass das von der Unternehmensleitung kommunizierte und gelebte Leitbild entscheidend für den Erfolg des Compliance-Managements ist. Das früher als nicht verbindlich wahrgenommene und das simple Bekenntnis des Managements zu Compliance wird regelmäßig dann entscheidend, wenn derartige Rechtsverstöße, wie im hier dargestellten Fall, auftreten.
Des Weiteren macht das Urteil deutlich, dass der Vorstand keinerlei Wahl hat. Diese Rechtsverstöße sind zwingend aufklären und die Konsequenzen dafür zu tragen. Auch muss jedes Vorstandsmitglied, wenn es sich nicht einem Haftungsrisiko aussetzen will, darauf bedacht sein, Compliance als eigene Aufgabe anzusehen und darauf hinwirken .Weiterhin zeigt das Urteil deutlich, dass neben straf- und ordnungsrechtlichen Risiken auch zivilrechtliche Risiken von Vorstandsmitgliedern realistisch sind.