Nun kommt er also, der gesetzliche Mindestlohn. Falls der Bundestag und der Bundesrat dem Gesetzesentwurf noch 2014 zustimmen, haben Arbeitnehmer zum 01.01.2015 einen Mindestarbeitsentgeltanspruch von 8,50 €. Aber wann genau hat ein Arbeitnehmer diesen Anspruch? Insbesondere, wenn er in die Anwendbarkeit eines Tarifvertrages fällt und/oder für ihn ein branchenspezifischer Mindestlohn nach dem AEntG festgesetzt wurde?

 

Durch die geringe Tarifbindung in Deutschland ist das Lohngefüge durcheinander geraten. Immer mehr Menschen arbeiten unterhalb der Niedriglohngrenze von 9,49 €. Etwa 5,6 Millionen beziehen sogar einen Lohn, der noch unter 8,50 € pro Stunde liegt. 2012 waren lediglich 59% der Arbeitnehmer faktisch tarifgebunden, also durch Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft, Allgemeinverbindlichkeitserklärung oder durch Verweis auf einen Tarifvertrag in Arbeitsverträgen. Besonders dort, wo der Betriebsrat fehlt, werden Tarifbestimmungen sehr vage ausgelegt.
Kann der Mindestlohn das Lohngefüge in Deutschland wieder ins Gleichgewicht bringen? Sind 8,50 € ein angemessener Stundenlohn, oder soll er lediglich eine Grenze festlegen, die nicht unterschritten werden darf? Wann findet er Anwendung, und wann wird er durch Tarifvertrag, Arbeitsvertrag oder Verordnungen abgelöst?

Die Allgemeinverbindlichkeit nach dem Tarifvertragsgesetz

Gemäß § 5 TVG kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit Vertretern der Spitzenorganisationen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern für allgemeinverbindlich erklären. Die Allgemeinverbindlichkeit bewirkt, dass auch nicht bzw. anderweitig tarifgebundene Arbeitsverhältnisse erfasst werden, wenn diese, gemäß § 5 Abs. 4 TVG, unter dessen Geltungsbereich fallen. Damit erfüllt die Allgemeinverbindlichkeitserklärung eine soziale Schutzfunktion,da für den Geltungsbereich des entsprechenden Tarifvertrages auch ein Mindestlohn eingeführt wird.
Allerdings müssen die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50% der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Damit sollen die Soziallasten zwischen organisierten und nicht organisierten Arbeitgebern ausgeglichen werden.
Problematisch ist hier der starke Rückgang allgemeinverbindlicher Tarifverträge nach § 5 TVG. Das liegt zum einen daran, dass immer weniger Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert sind, zum anderen, dass Arbeitgeberverbände seit mehreren Jahren die Zustimmung zu Allgemeinverbindlichkeitserklärungen verweigern. Dieser Zustand hat zur Folge, dass weniger als 0,7% der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer von allgemeingültigen Tarifverträgen erfasst werden.

Die Allgemeinverbindlichkeit nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz

Ziel des Gesetzes ist, nach § 1 AEntG, die Durchsetzung angemessener Mindestarbeitsbedingungen zwischen im Ausland ansässigen Arbeitgebern und ihren im Inland beschäftigten Arbeitnehmern. Dabei bezieht sich die Anwendbarkeit bestimmter Arbeitsbedingungen, die durch einen Tarifvertrag geregelt sind, auf die in § 4 AEntG bezogenen Branchen. Diese Branchen umfassen zum Beispiel die Gebäudereinigungsbranche, die Sicherheitsdienstleistungsbranche etc.
Voraussetzung für die Anwendbarkeit ist, dass der Tarifvertrag entweder nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt oder nach § 7 AEntG durch Rechtsverordnung erfasst wurde – die sogenannte „einfache Allgemeinverbindlichkeit“.
Ergo: Nach dem AEntG muss bereits ein Tarifvertrag für die entsprechende Branche bestehen, damit dieser durch Rechtsverordnung für allgemeinverbindlich erklärt werden kann.

 

Eignet sich das AEntG dazu eine höhere Lohnabsicherung zu gewährleisten?

 

Das Verfahren, um eine Allgemeinverbindlichkeit eines schon bestehenden Tarifvertrages zu erreichen, wird hier durch Antrag der Tarifvertragsparteien angestoßen. Eine 50%-Hürde wie im Tarifvertragsgesetz existiert nicht.
Der große Nachteil ist allerdings die Einschränkung auf die in § 4 AEntG genannten Branchen. Dieser Sonderschutz führt zu einem Gleichheitsverstoß. Es ist nicht ersichtlich, warum etwa Fleischer oder Friseure nicht schutzbedürftig sind. Immerhin galt für alle einbezogenen Branchen das Problem, dass es sich um Dienstleistungen handelt, in denen die Personalkosten den entscheidenden Kostenfaktor darstellen.
Jedoch war das Instrument der Rechtsverordnung, nach § 7 AEntG, durch die nicht vorhandene 50%-Hürde bislang in der Praxis der wichtigste Weg zur Schaffung branchenspezifischer Mindestlöhne.
Unter der Voraussetzung, dass das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf alle Branchen ausgeweitet wird, könnte durch die „einfache Allgemeinverbindlichkeit“ eine höhere Lohnabsicherung gewährleistet werden, indem Mindestlöhne über 8,50 € vereinbart werden könnten.
In diesem Fall würde der Mindestlohn also tatsächlich zu einem ausgeglichenen Lohngefüge in Deutschland beitragen.

 

Kollision zwischen gesetzlichem Mindestlohn, Tarifvertrag und Arbeitsvertrag

Nehmen wir an, ein Arbeitnehmer fällt unter die normative Anwendung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages mit einem Stundenlohn von 12,00 €.
Im Arbeitsvertrag unseres Arbeitnehmers wurde allerdings ein Stundenlohn von 10,00 € vereinbart und dann gibt es ja auch noch den gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,50 €. Auf welchen Lohn hat unser Arbeitnehmer denn nun Anspruch?

Grundsätzlich geht der gesetzliche Mindestlohn vor, da es sich hier um ein Gesetz handelt und dieses in der Rangfolge stets vor dem Tarifvertrag und dem Arbeitsvertrag steht. Unser Arbeitnehmer kann aber aufatmen, denn für solch einen Fall hat der Gesetzgeber mit dem § 4 Abs. 3 TVG vorgesorgt – dem so genannten Günstigkeitsprinzip. Es stellt sich also die Frage, welche von den genannten Lohnregelungen die Günstigere für den Arbeitnehmer darstellt. Sowohl der Tariflohn, als auch der im Arbeitsvertrag geregelte Stundenlohn sind mit 12,00 € bzw. 10,00 € deutlich höher als der gesetzliche Mindestlohn. Somit fällt die Anwendung der 8,50 € schon einmal weg. Weiter heißt es in Abs. 3 des § 4 TVG, dass eine abweichende Abmachung nur zulässig ist, soweit sie durch den Tarifvertrag, also die höhere Rechtsquelle, gestattet ist. Da auch dies hier nicht zutrifft, entfällt die Anwendbarkeit des im Arbeitsvertrag vereinbarten Lohns von 10,00 €. Unser Arbeitnehmer kann sich also entspannt zurücklehnen und sich sicher sein, dass sein Stundenlohn weiterhin 12,00 € beträgt.

 

Anwendung des Mindestlohns

Mit Hilfe des gesetzlichen Mindestlohns will der Gesetzgeber also das Notwendige an sozialer Sicherheit verbürgen und wird demnach „nur“ die 10% betreffen, die ein geringeres Arbeitsentgelt als 8,50 € pro Stunde beziehen.
Allgemeinverbindliche Tarifverträge, ob nach dem Tarifvertragsgesetz oder dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz, deren Laufzeit über den 01.01.2015 hinausgehen und in denen ein geringerer Lohn als die 8,50 € vereinbart wurde, gelten noch bis zum 31.12.2016. Wohl um eine Anpassung und die damit einhergehende Umstrukturierung zu gewährleisten und zu verhindern, dass Arbeitsplätze verloren gehen.

Zum Vertiefung: http://www.juraforum.de/wissenschaft/viele-nachbarstaaten-stabilisieren-lohngefuege-erfolgreich-a-deutliche-luecken-in-deutschland-453556